Epilepsie betrifft weltweit Millionen von Menschen, von denen viele trotz medikamentöser Behandlung unter schweren Anfällen leiden. Für diese Patienten bietet der minimalinvasive EASEE®-Hirnschrittmacher eine neue, vielversprechende Behandlungsoption. Er kombiniert modernste Neuromodulationstechnologien mit patientenorientierter Anwendung und eröffnet neue Perspektiven in der Epilepsietherapie. Michael Tittelbach und Karl Stoklosa, Geschäftsführer der Precisis GmbH, haben uns einige Fragen zu ihrem neuartigen Produkt beantwortet.
Der EASEE®-Hirnschrittmacher bietet eine minimalinvasive Behandlungsoption für Epilepsiepatienten, die pharmakoresistent sind. Können Sie uns den neurophysiologischen Wirkmechanismus des Geräts und dessen Funktionsweise im Detail erläutern?
Der EASEE®-Hirnschrittmacher liefert fokale kortikale elektrische Stimulation direkt an den epileptischen Fokus. Diese besteht aus individuell programmierten und gezielt eingesetzten Stromppulsen, unter Anwendung zweier unterschiedlicher Stimulationsparadigment. Das erste ist eine gleichstromähnliche Stimulation, die täglich für 20 Minuten durchgeführt wird und darauf abzielt, die Erregbarkeit der betroffene Gehirnregion zu reduzieren und so das Auftreten epileptischer Aktivität im Fokus mehr und mehr zu unterdrücken. Dazu kommt als zweites Paradigma eine über den ganzen Tag verteilte Hochfrequenzstimulation, mit dem Ziel sich entwickelnde Anfälle zu verhindern oder deren Ausprägung zu minimieren. Diese duale Herangehensweise, die zwei unterschiedliche Wirkmechanismen kombiniert, ist weltweit einzigartig und wurde bislang in keinem anderen Neuromodulationssystem für Epilepsien implementiert.
Im Gegensatz zur Tiefenhirnstimulation (DBS), bei der zwei Elektroden tief ins Gehirn implantiert werden, oder zur Vagusnervstimulation (VNS), die die Gehirnaktivität indirekt durch Stimulation des Vagusnervs beeinflusst, liefert EASEE® die Stimulation direkt an die betroffene Hirnrinde. Diese Methode ist fokussierter und weniger invasiv als herkömmlichen Verfahren und sie erlaubt eine weniger invasive und risikoärmere Implantation. EASEE® ist für die Therapie von Patienten mit pharmakoresistenten fokalen Epilepsien zugelassen, die ihre epileptischen Herde im lateralen Temporallappen oder extratemporalen Lappen aufweisen und die für eine resektive Chirurgie ungeeignet sind oder sich dagegen entscheiden.
Die Implantation erfolgt minimal-invasiv: Die EASEE® Lead-Elektrode wird direkt unter der Haut auf dem Schädel, über der epileptogenen Zone, platziert. Das Gerät wird dann mit einem implantierbaren Pulsgenerator (IPG) verbunden, der subkutan im Brustbereich nahe dem Schlüsselbein implantiert wird. Diese Methode schließt sowohl die Eröffnung des Schädels als auch den Kontakt der Implantate mit kritischen Geweben wie z.B. Nervenzellen aus und reduziert somit erheblich die chirurgischen Risiken, die mit invasiveren Verfahren verbunden sind.
In klinischen Studien konnten Sie vielversprechende Ergebnisse in der Reduktion der Anfallshäufigkeit beobachten. Welche spezifischen Resultate aus Ihren Langzeitbeobachtungen sind für das Patientenmanagement am aussagekräftigsten, und welche Patientengruppen profitieren besonders?
Klinische Studien zu EASEE® haben eine anhaltende Reduktion von Anfällen gezeigt, wobei viele Patienten eine Verringerung der Anfallshäufigkeit um mindestens 50 % und einige sogar vollständige Anfallsfreiheit erreichten.
Die wichtigsten Ergebnisse sind[1]:
- 81 % der zunächst stimulierten Patienten entschieden sich, die epikraniale Fokusstimulation über einen Zeitraum von 2 Jahren hinaus fortzusetzen
- Die Responder-Rate, also der Anteil der Patienten, die ihre Anfallfrequenz gegenüber baselind um 50% oder mehr reduzieren konnten, betrug 41,4 % (n=29) nach einem Jahr und 65,4 % (n=26) nach zwei Jahren.
- Die mediane monatliche Anfallshäufigkeit reduzierte sich um 38 % nach 12 Monaten (n=29) und 68 % nach 24 Monaten (n=26).
- Es wurden keine schwerwiegenden unerwünschten Ereignisse festgestellt, die mit dem Neurostimulationsverfahren in Verbindung gebracht wurden, selbst bei einer verlängerten Stimulationsdauer.
EASEE® ist für erwachsene Patienten mit medikamentenresistenten fokalen Epilepsien geeignet, deren Anfälle im lateralen Temporallappen oder in extratemporalen Bereichen entstehen. Dies schließt Patienten ein, deren epileptogene Zonen sich mit kritischen Gehirnregionen überschneiden.
Die Implantation des EASEE® erfolgt minimalinvasiv. Welche technischen und klinischen Überlegungen standen bei der Entwicklung dieses Ansatzes im Vordergrund, um Risiken zu minimieren und gleichzeitig eine effiziente Anfallsunterdrückung zu gewährleisten?
Die Entwicklung von EASEE® wurde von einer klaren Vision geleitet: eine bahnbrechende Lösung für die Epilepsietherapie zu schaffen, die Patientensicherheit, Komfort und Effektivität in den Vordergrund stellt und dabei minimal invasiv ist. Auf technischer Ebene wurden biokompatible und flexible Elektrodenmaterialien ausgewählt, um sicherzustellen, dass sich das Gerät natürlich an die Oberfläche des Schädels anpasst. Das flache Design minimiert nicht nur die Sichtbarkeit von außen, sondern erhöht auch den Tragekomfort und macht die Therapie nahezu unsichtbar und patientenorientiert. Fortschrittliche Stimulationsparameter wurden sorgfältig entwickelt, um eine konsistente und effektive Therapie zu gewährleisten.
Aus klinischer Sicht lag der Fokus darauf, chirurgische Risiken zu minimieren, indem ein subkutanes Implantationsverfahren gewählt wurde, das die Manipulation an Hirngewebe, Schädel und wichtigen Nerven wie dem Vagusnerv vermeidet. Dies reduziert das Risiko von Infektionen erheblich und verkürzt die post-operative Genesungszeit im Vergleich zu herkömmlichen invasiveren Verfahren deutlich. Zudem wurde die Kompatibilität mit modernen Bildgebungstechnologien wie 1,5T- und 3T-MRT priorisiert, um eine nahtlose Integration der Therapie in bestehende medizinische Praktiken zu gewährleisten und diagnostische Einschränkungen für die Patienten zu minimieren. EASEE® kombiniert zwei bewährte Stimulationsarten in einem System und nutzt so die Stärken beider Ansätze, um eine umfassende und hochwirksame Behandlung zu ermöglichen. Im Kern spiegelt EASEE® unser Engagement wider, die Therapie funktioneller neurologischer Erkrankungen voranzutreiben und die Lebensqualität der Patienten nachhaltig zu verbessern.
Mit dem wachsenden Feld der Neuromodulation eröffnet sich für junge Mediziner ein neues Spezialgebiet. Welche Kompetenzen und Fachkenntnisse werden künftig besonders gefragt sein, um Innovationen wie den EASEE® erfolgreich in die Praxis zu integrieren?
Das Feld der Neuromodulation ist hochinnovativ und wachsend, mit enormen Chancen für die Zukunft. Es eröffnet spannende neue Wege für junge Mediziner, die Zukunft der Neurologie und die Behandlung funktioneller neurologischer Erkrankungen aktiv mitzugestalten und zu beeinflussen. Um innovative Therapien wie EASEE® erfolgreich in die klinische Praxis zu integrieren, benötigen die Ärzte von morgen ein breites Spektrum an Fähigkeiten, die über die traditionelle medizinische Ausbildung hinausgehen. Technische Kompetenz wird entscheidend sein, um die Komplexität von Neuromodulationsgeräten zu beherrschen. Ebenso wichtig ist interdisziplinäres Wissen und eine Zusammenarbeit, die Neurologie, Neurochirurgie und Bioingenieurwesen verbindet, um ein ganzheitliches Verständnis dieses hochinnovativen Bereichs zu fördern.
Die Fähigkeit, Forschung zu interpretieren und klinische Daten zu analysieren, wird es Gesundheitsfachkräften ermöglichen, an der Spitze der Innovation zu bleiben und sicherzustellen, dass jede Weiterentwicklung auf soliden Beweisen und kritischem Denken basiert. Genauso bedeutend ist die Fähigkeit, mit Patienten zu kommunizieren und die Vorteile, Risiken und das transformative Potenzial von Neuromodulationstherapien so zu erläutern, dass Vertrauen aufgebaut und Hoffnung gegeben wird. Indem junge Gesundheitsfachkräfte diese einzigartige Kombination von Fähigkeiten entwickeln, können sie nicht nur Innovationen wie EASEE® in die klinische Praxis integrieren, sondern auch dazu beitragen, durch die Kraft der Neuromodulation Leben nachhaltig zu verändern.
Sie arbeiten als MedTech-Unternehmen eng mit medizinischen Fachkräften zusammen. In welcher Form gestaltet sich diese Zusammenarbeit, und wie können Ärztinnen und Ärzte, die sich auf Epilepsiebehandlung spezialisieren möchten, aktiv an der Weiterentwicklung solcher Technologien teilhaben?
Die Zusammenarbeit mit medizinischen Fachkräften und führenden Meinungsbildnern ist ein integraler Bestandteil unserer Mission als MedTech-Unternehmen. Diese Partnerschaft fördert die Entwicklung innovativer medizinischer Technologien, die darauf abzielen, ungedeckte Bedürfnisse in der neurologischen Versorgung zu adressieren.
Der Beitrag von Ärzten ist von unschätzbarem Wert: Ihre klinischen Erkenntnisse, basierend auf Erfahrungen und Ergebnissen aus der Patientenversorgung, fließen direkt in die Weiterentwicklung unserer Produkte ein. Dieser kollaborative Ansatz stellt sicher, dass unsere Lösungen nicht nur wirksam sind, sondern auch eng auf die Bedürfnisse von Patienten und medizinischen Anwendern abgestimmt werden.
Schulung und Fortbildung bilden einen weiteren essenziellen Bestandteil unserer Zusammenarbeit. Wir setzen uns dafür ein, medizinische Fachkräfte auf die sich wandelnden Anforderungen des deutschen Gesundheitssystems vorzubereiten. Durch die enge Zusammenarbeit mit klinischen Epileptologen und Neurochirurgen entwickeln wir umfassende Schulungsprogramme, die Ärzte befähigen, EASEE® sicher und effektiv anzuwenden – mit dem Ziel, die Lebensqualität der Patienten nachhaltig zu verbessern.
Forschungskooperationen schlagen eine Brücke zwischen wissenschaftlicher Untersuchung und klinischer Praxis. Ärzte nehmen aktiv an klinischen Studien wie EASEE4YOU, EASEE LEE oder den ärztlich geführten Studien IIS EASEE PEARL und BrainMap teil und generieren praxisnahe Daten, die die Vorteile von EASEE® in unterschiedlichen Patientengruppen, einschließlich Jugendlicher, untersuchen. Gemeinsam tragen wir nicht nur zur Weiterentwicklung der Epilepsiebehandlung bei, sondern leisten auch einen bedeutenden Beitrag zur Verbesserung des Lebens der Menschen, die von dieser Erkrankung betroffen sind.
EASEE® ist eine minimalinvasive, effektive und vollständig reversible Therapie, ohne das Gehirn zu berühren.
Epilepsiepatienten mit pharmakoresistenter fokaler Epilepsie standen bisher vor einer begrenzten Auswahl an therapeutischen Möglichkeiten. Wie lässt sich der Einsatz des EASEE® gegenüber einer resektiven Epilepsiechirurgie bewerten, und für welche spezifischen Indikationen sehen Sie den größten Nutzen?
EASEE® stellt einen bedeutenden Fortschritt in der Behandlung von Patienten mit pharmakoresistenter fokaler Epilepsie dar und bietet eine überzeugende Alternative zur resektiven Epilepsiechirurgie. Im Gegensatz zur resektiven Chirurgie, die die Entfernung von Hirngewebe erfordert, ist EASEE® eine minimalinvasive, effektive und vollständig reversible Therapie, ohne das Gehirn zu berühren.
Die Vorteile von EASEE® sind enorm: Das Verfahren zeigt eine hohe Wirksamkeit bei gleichzeitig minimalen chirurgischen Risiken, verkürzt die Erholungszeit erheblich und vermeidet die irreversiblen Veränderungen, die mit herkömmlichen Operationen einhergehen. Dies macht EASEE® zu einer attraktiven Option für Patienten mit medikamentenresistenten fokalen Epilepsien. Darüber hinaus gehen die Vorteile von EASEE® über die Reduzierung von chirurgischen Risiken und Erholungszeiten hinaus. Es bietet eine potenziell transformative Lösung für Patienten, deren epileptogene Zonen sich in kritischen funktionellen Bereichen befinden, wo herkömmliche Operationen mit übermäßig hohen Risiken oder verbunden sein könnten. Zudem eignet sich EASEE® hervorragend für Patienten, die sich gegen eine resektive Chirurgie entscheiden. Besonders wichtig ist, dass EASEE® als wertvolle First-Line Option dienen kann, indem es den Patienten ermöglicht, eine effektive Neuromodulationstherapie auszuprobieren, bevor invasivere chirurgische Eingriffe in Betracht gezogen werden.
Die Neuromodulation steht an einem technologischen Wendepunkt. Welche Entwicklungen in der Medizintechnik, wie zum Beispiel der Einsatz von KI in der Epilepsiediagnostik und -therapie, sehen Sie als nächste Schritte für Precisis und die Branche insgesamt?
Die Neuromodulation steht an der Schwelle zu einer transformierenden Ära, in der innovative Technologien wie künstliche Intelligenz und personalisierte Medizin die Landschaft der Epilepsiediagnostik und -therapie neu definieren. Bei Precisis sehen wir eine Zukunft, in der diese Fortschritte nahtlos integriert werden, um Patientenergebnisse zu optimieren und die Versorgung zu revolutionieren, sodass Behandlungen für unterschiedliche Patientengruppen effektiver werden.
Eine der bedeutendsten Innovationen ist die Entwicklung von Closed-Loop-Systemen. Diese Geräte ermöglichen die Echtzeitüberwachung und automatische Anpassung der Stimulationsparameter, wodurch eine optimale Therapie mit minimalem Eingriff seitens der Patienten sichergestellt wird. Ergänzend dazu bieten tragbare Technologien eine kontinuierliche, nicht-invasive Überwachung und erfassen entscheidende Daten, die zur Verbesserung der Therapieentscheidungen beitragen können. Das ultimative Ziel ist die Realisierung personalisierter Medizin. Durch die Nutzung von Big Data und fortschrittlichen Analysen können künftig wir Behandlungen individuell auf die einzigartigen Umstände und Bedürfnisse jedes Patienten zuschneiden und so den Ansatz „one-size-fits-all“ überwinden.
Bei Precisis setzen wir uns mit voller Überzeugung dafür ein, diese Innovationen voranzutreiben. Indem wir an der Spitze der Medizintechnologie bleiben, möchten wir nicht nur das Leben von Epilepsiepatienten verbessern, sondern auch neue Standards dafür setzen, was mit Neuromodulation möglich ist.
Die Interviewpartner:
[1]https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S1388245723008210#:~:text=Long%2Dterm%20results%20suggest%20that,patients%20with%20pharmacoresistant%20focal%20epilepsy.
Einen weiteren spannenden MedTech-Beitrag, findest du hier verlinkt.