Das Schlagwort Künstliche Intelligenz ist derzeit in aller Munde. Was die Menschen sich unter KI vorstellen variiert jedoch sehr stark. Daraus resultieren teilweise falsche Vorstellungen von dem, was sie heute schon kann. In der Medizin sind erste konkrete Anwendungen im Einsatz: Im Kern geht es immer darum, große Datenmengen schnell zu analysieren und damit Mediziner:innen zu unterstützen. In Zukunft sind aber noch weitreichendere Einsatzfelder denkbar: Von intelligenten Wearables bis hin zu steuerbaren Medikamenten.
Ann Winblad, legendäre Technologie-Investorin aus dem Silicon Valley, bezeichnete 2006 Daten als „das neue Öl“, den Rohstoff der kommenden Wissensgesellschaft. Darüber hinaus kann man zwischen Daten und Öl einige Gemeinsamkeiten finden: So sind beide in ihrer Rohform relativ wertlos, der Grad der Aufbereitung steigert den Wert erheblich.
Datengetriebene Ansätze in der Medizin haben ein unvorstellbares Potenzial, das auf zwei technologische Entwicklungen in der Informatik zurückgeht: Big Data ermöglicht es prinzipiell, beliebig große und auch beliebig strukturierte/komplexe Daten zu speichern und effizient zu verarbeiten – dazu schnell und kostengünstig. Maschinelles Lernen und KI ersetzen teilweise kausale Logik durch korrelative Zusammenhänge in gegebenenfalls komplexen Mustern.
Das heißt, KI kann etwas erkennen, ohne den ursächlichen Wirkungsmechanismus verstehen zu müssen. Sie muss auch nicht programmiert werden, was ja ein Verständnis der Zusammenhänge voraussetzen würde. Stattdessen lernt KI durch Daten und nutzt darin kleine und sehr komplexe Indikatoren (sogenannte Features oder Trigger). Die Möglichkeit, medizinische Vorhersagen treffen zu können, ohne die exakten Wirkmechanismen verstehen zu müssen, sind in Forschung und Praxis vielfach anwendbar. Erkennt KI zum Beispiel eine Krankheit, dann ist nicht unbedingt relevant, warum das so ist (was übrigens bei menschlichen Diagnosen auch oft nicht der Fall ist). Entscheidend sind Sensitivität und Spezifität, also die Genauigkeit des Verfahrens.
Auch im Umfeld von Life Sciences hat man inzwischen das in der KI schlummernde Potenzial erkannt. Im Rahmen einer von Accenture durchgeführten Studie gaben 90 Prozent der Befragten an, die KI im Bereich von Life Sciences als einen wichtigen Faktor anzusehen, wenn es um Wachstum und das schnelle Erreichen eigener Ziele geht.
In der Life Science-Forschung spielt KI eine zunehmend wichtige Rolle. Am weitesten in die Zukunft gerichtet sind Forschungen und Visionen, die Nano-Technologie und Künstliche Intelligenz verbinden wollen. Das Ziel ist es, Medikamente zu entwickeln, die nach der Verabreichung an Patient:innen von außerhalb des Körpers kontrolliert werden können. So wäre es unter anderem möglich, Dosierung und Lokalisierung freigesetzter Wirkstoffe ideal an Krankheitsverläufe anzupassen.
Natürlich machen sich die Life Science-Forscher:innen auch die Möglichkeit Künstlicher Intelligenzen bei der Auswertung großer Datenmengen zunutze. Wenn es also klassischerweise darum geht, Daten aus klinischen Studien und anderen Quellen zu erheben, sind Computer definitiv im Vorteil, weil sie Muster nicht nur schneller und exakter erkennen als Menschen, sondern auch nicht ermüden.
In den Bereich der von Künstlichen Intelligenzen durchgeführten Mustererkennung fallen auch Screenings von Röntgenbildern und Gewebeproben, die gegenwärtig noch oft von Menschen (in Radiologie beziehungsweise Histologie) durchgeführt werden. Da die Aufmerksamkeitspanne von Menschen begrenzt ist, können Befunde auch aus diesem Grund falsch klassifiziert werden, nicht nur weil es sich um komplizierte oder Grenzfälle handelt. Dennoch: am Ende einer computergestützten (Vorab-)Diagnose steht in jedem Fall die abschließende Beurteilung durch einen Menschen.
Schreitet die Entwicklung weiter so rasch voran, ist es möglich, dass Ärzt:innen in Zukunft mit Unterstützung von Krankheitsbildern differenzierter, schneller und günstiger beurteilen können. Das tun schon heute von Patient:innen getragene Analysegeräte für Herzrhythmus oder Blutzuckerspiegel. Sie werden von den Patient:innen direkt am Körper getragen und erfassen kontinuierlich Parameter. Auch diese Wearables können durch den Einsatz von KI in den kommenden Jahren viel leichter in den Alltag integriert werden und somit noch wertvollere Dienste leisten, als sie es heute schon tun.
Und mit den klinischen Anwendungen ist das Potenzial der KI noch nicht erschöpft. Durch die Corona-Pandemie gibt es einen starken Trend hin zur Digital-Health-Konzepten und -Lösungen. Geht es beispielsweise um so etwas Banales wie den Anruf beim Arzt oder der Ärztin können KI-Systeme dabei helfen, Patientendaten schnell und vollumfänglich zu finden und gegebenenfalls bereits erste Voranalysen vorzunehmen. Wenn beispielsweise Diabetiker:innen per Mobiltelefon ihre Blutzucker-Protokolle zu ihren Diabetologen senden, ist eine KI in der Lage, wiederkehrende Muster zu erkennen und den behandelnden Ärzt:innen erste Hinweise auf den Grad der Diabeteseinstellung der Patient:innen zu geben.
Unter „Patienten Journeys“ versteht man im Wesentlichen die Abfolge der verschiedensten Kontaktpunkte der Patient:innen oder Bürger:innen mit dem Gesundheitssystem. Erstellen lassen sich diese Zeitreihen zum Beispiel aus Daten der Krankenversicherung. Ein Arztbesuch zu einem bestimmten Datum führt zu einer Diagnose und Therapie. Teil der Therapie kann ein verschriebenes Medikament sein, welches über eine Apotheke ausgegeben wird, was wieder einen diskreten Datenpunkt erzeugt. Analog kann das für Behandlungen aller Art geschehen. Die Summe vieler solcher Patientenreisen ergibt eine umfassende Zeitreihe und damit ein Bild über die Krankheits- und Behandlungssituation einer Population.
So können etwa die Auswirkungen von Medikamenten in bestimmten Populationen (etwa Geschlecht, Alter, Ethnie) verglichen und daraus KI-basierte Vorhersagen für eine einzelne Person generiert werden: Was ist für speziell meine Situation das bessere Schmerzmittel? Welche Langzeitauswirkungen sieht man bei einer bestimmten Gruppe? Was waren erfolgreiche Alternativen? Diese Fragen lassen sich ohne Experimente einfach mittels Maschinellem Lernen aus vorliegenden Daten vorhersagen. Derartige Patienten-spezifische Präzisionsmedizin verspricht bessere Wirksamkeit bei minimierten Nebenwirkungen und einen Überblick über die Aussichten alternativer Heilmethoden für den spezifisch vorliegenden Fall.
Auch die Mitarbeitenden in den Abteilungen für Marketing und Vertrieb bei Pharma- und LifeScience-Unternehmen haben oftmals stupide, ermüdende Aufgaben zu erledigen, die ihnen eine KI erleichtern oder sogar abnehmen kann. In der erwähnten Studie stellte Accenture fest, dass KI die Effizienz in den genannten Abteilungen um 20 Prozent und die Genauigkeit der Abläufe um 40 Prozent steigern kann. Auch hier unterstützt KI den Menschen – er erhält Raum für komplexere Aufgaben und kann fundierte Entscheidungen auf Datenbasis treffen.
Autor Dr. Andreas Braun ist Managing Director und Geschäftsführer bei Accenture und verantwortet das Applied Intelligence- und Daten-Geschäft.
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