Die Orthopädie und Unfallchirurgie ist eines der bekannteren Fachgebiete in der Medizin. Ist der Bereich genauso spannend wie sein Ruf? Und warum lohnt sich gerade hier eine fachärztliche Weiterbildung? Diese und mehr Fragen beantwortet Ihnen Dr. med. Lisa Wenzel vom Jungen Forum der Deutschen Gesellschaft für Orthopädie und Unfallchirurgie (DGOU) und des Berufsverbands für Orthopädie und Unfallchirurgie (BVOU).
Unsere Leser:innen sind Nachwuchsmediziner:innen, die sich für eine geeignete fachärztliche Weiterbildung entscheiden wollen. Was spricht aus Ihrer Sicht für den Fachbereich der Unfallchirurgie und Orthopädie, Frau Wenzel?
Für die Beantwortung dieser Frage müssen wir einen kleinen Blick in die Weiterbildungsstrukturen werfen. Die Unfallchirurgie und Orthopädie (O und U) sind vor über zehn Jahren zu einem gemeinsamen Facharzt zusammengeführt worden. Im Sinne der Weiterbildung gibt es also keinen alleinigen Facharzt für Unfallchirurgie. Durch den Zusammenschluss ergibt sich ein sehr breites Spektrum mit der Möglichkeit, in der Klinik oder Niederlassung tätig zu sein und Patienten aller Altersklassen zu behandeln. Außerdem ist später eine Spezialisierung für die beiden Hauptgebiete, aber auch für zahlreiche kleinere Bereiche möglich. Dabei bietet die Orthopädie einen praktischen Schwerpunkt, planbare Arbeitszeiten und reicht von der Endoprothetik bis zur Sportorthopädie. Die Unfallchirurgie kann mit sehr viel Action und Abwechslung aufwarten. Beiden Fächern gemeinsam ist die enge Teamarbeit und die Möglichkeit, oft unmittelbar Hilfe zu leisten und so täglich Erfolge zu erleben. Das ist unglaublich motivierend.
Welche Soft Skills, die über die fachliche Expertise hinausgehen, benötigt man als Unfallchirurg:in oder Orthopäd:in?
Genauso breit wie das Fach und Tätigkeitsmöglichkeiten darin aufgestellt sind, so weit sind auch die hierfür erforderlichen Soft Skills gefächert. In der Klinik ist in erster Linie Teamfähigkeit eine Basiskompetenz, die jeder mitbringen sollte. Gerade im unfallchirurgischen Bereich stehen auch eine schnelle Auffassungsgabe, Entscheidungsfähigkeit, Flexibilität, Belastbarkeit und eine gute Resilienz im Vordergrund. Im niedergelassenen Bereich sind Organisationsvermögen, eine strukturierte Arbeitsweise und Empathie gefragt. Ergänzt werden sollten diese Eigenschaften durch eine lebenslange Lernbereitschaft und größte Sorgfalt. Besonders wichtig im operativen Bereich ist es, körperlich fit zu sein und sich nicht vor persönlichem Krafteinsatz zu scheuen. Hier ist proaktives Handeln und Anpacken gefragt.
Gibt es derzeit einen hohen Nachwuchsbedarf?
Von den Chefärzt:innen im Bereich der O und U wird seit mehreren Jahren ein deutlicher Bewerbungsrückgang verzeichnet. Gerade in den ländlichen Regionen sind Ärzt:innen, die sich niederlassen wollen, sehr gefragt. Das lässt sich fachübergreifend feststellen.
Angenommen, ein:e angehende:r Mediziner:in interessiert sich für den Bereich, ist sich aber noch unsicher – was würden Sie ihm/ihr empfehlen? Welche Fragen sollten Interessent:innen stellen?
Ich denke, im Fach O und U ist es besonders wichtig, ein nettes Team zu finden, in welches man sich gut integrieren kann. Denn mit diesen Kolleg:innen arbeitet man im OP eng zusammen, aber auch während der Sprechstunde und auf der Station ist Teamarbeit gefragt. Ähnlich sieht es in im niedergelassenen Bereich aus. Daher empfehle ich eine Hospitation für mindestens eine Woche. Am besten eignen sich jedoch Famulaturen und das PJ, um einen realistischen Einblick zu gewinnen. Bei dieser Gelegenheit kann man auch die Assistenzärzt:innen befragen, wie zufrieden sie mit der Weiterbildung sind oder wo sie Herausforderungen sehen und wie viele Dienste in der Regel abgeleistet werden und wie diese organisiert werden.
Außerdem sollte man sich auf der Homepage der Ärztekammer über die Weiterbildungsbefugnis informieren, um die Frage zu klären, wie viele Jahre man in dieser Klinik weitergebildet werden kann, bevor man wechseln muss, oder ob gegebenenfalls Rotationen in andere Kliniken organisiert werden müssen.
Den/die Weiterbildungsbefugte:n kann man zum Beispiel nach der geplanten Rotationsstruktur fragen und bereits klären, ob die Kosten für Weiterbildungskurse übernommen werden. Des Weiteren kann die berufliche Perspektive in der jeweiligen Klinik in Erfahrung gebracht werden, etwa wo die Schwerpunkte liegen und wie die Vertragsdauer bestimmt ist. Auch die Erwartungen von Seiten der Klinik an den Bewerber sind wichtig. Wird zum Beispiel erwartet, dass der/die junge Assistenzärzt:in sich aktiv in der Forschung einbringt, und ist das auch mein Wunsch?
All diesen Fragen voranzustellen ist die Voraussetzung, sich selbst darüber im Klaren zu sein, was man sich selbst für die Zukunft, auch über den Facharzt hinaus, vorstellt und wünscht.
Woran wird im Bereich der O und U derzeit besonders intensiv geforscht?
In O und U werden gerade viele Forschungsergebnisse im Bereich der navigierten Verfahren in der Produktentwicklung umgesetzt. Insbesondere in der Endoprothetik kommt die Navigation bereits jetzt häufig zum Einsatz, aber auch bei anderen Implantaten, die zur Stabilisierung von Frakturen verwendet werden, ist dies der Fall. Künstliche Intelligenz und Robotik werden in Zukunft weitere Pfeiler sein.
Insgesamt ist die Forschung in der O und U sehr vielfältig, denn sie kann ganz praktisch auf dem Gebiet der Biomechanik stattfinden, aber auch klinisch oder mit Hilfe von Pipetten im Labor.
Nachwuchsmediziner:innen ist zunehmend auch die Vereinbarkeit von Beruf und Privatem wichtig. Wie sieht es in der O und U mit der Work-Life-Balance aus?
In der Orthopädie mit der Möglichkeit der Niederlassung oder auch der Anstellung in einer Gemeinschaftspraxis oder MVZ finden sich verschiedenste Arbeitszeitmodelle. Eine Tätigkeit in Teilzeit ist hier bereits stark etabliert. In den Kliniken befinden wir uns gerade in einem Wandel in Bezug auf die Arbeitszeiten. In der Vergangenheit war es im operativen Bereich nahezu undenkbar, in Teilzeit zu arbeiten. Heute nehmen immer mehr Ärzt:innen Elternzeit und auch Teilzeitmodelle werden immer häufiger umgesetzt. Diesbezüglich gibt es aber sicherlich noch Entwicklungsspielraum.
Wie sieht die Klinikarbeit zurzeit in Bezug auf Arbeitsbedarf und -belastung aus?
Bewerbungen im Bereich O und U sind sehr willkommen, denn der Nachwuchsbedarf ist groß und meist kann eine Stelle in kurzer Zeit gefunden werden. Zur Arbeitsbelastung kann keine generalisierte Aussage getroffen werden, denn je nach Tätigkeitsgebiet und Klinikstruktur kann diese stark divergieren. Hier muss im Einzelfall durch eine Hospitation oder durch Nachfrage geprüft werden, wie der Arbeitsumfang aussieht.
In welche Richtungen kann man sich nach der Weiterbildung spezialisieren?
Die Hauptzusatzbezeichnungen im operativen Bereich sind die spezielle Orthopädie und die spezielle Unfallchirurgie als Vertiefung der beiden Schwerpunkte. Zusätzlich ist hier die Handchirurgie zu nennen, welche eine sehr filigrane Arbeit beinhaltet. Vorwiegend konservative Spezialisierungen sind die Sportorthopädie, manuelle Medizin, Naturheilverfahren, das Rehabilitationswesen und die Geriatrie. Letztere mit immer größerer Nachfrage angesichts der alternden Bevölkerung. Gemischt konservativ-operativ sind die klinische Notfall- und Akutmedizin, die orthopädische Rheumatologie und die Kinderorthopädie.
Bereits bei dieser Aufzählung zeigt sich die große und spannende Bandbreite von O und U, wobei noch lange nicht alle möglichen Spezialisierungen genannt sind.
Mit welchen Vorurteilen gegenüber Chirurgen:innen würden Sie gerne einmal aufräumen?
Von anderen Fachdisziplinen werden Orthopäd:innen und Unfallchirurg:innen gerne als reine Handwerker:innen mit alleinigem Fokus auf die verletzte Körperregion gesehen. Allerdings sind Patient:innenfälle gerade in der septischen Chirurgie oder in der Alterstraumatologie medizinisch durchaus komplex, daher erfordert die richtige Entscheidungsfindung bei der Therapie und auch die Behandlung von Begleiterkrankungen durchaus viel medizinisches Wissen und fachlichen Weitblick.
Häufig hört man auch, dass Frauen in O und U nichts zu suchen haben. Sicherlich muss man in vielen Bereichen der O und U körperliche Fitness mitbringen, denn gerade bei der operativen Tätigkeit muss häufig eine schwere Röntgenschürze getragen werden und Frakturrepositionen und das Einbringen oder Entfernen von beispielsweise Marknägeln können kräftezehrend sein. In den meisten Fällen ist jedoch die Technik viel entscheidender als die Kraft und so können Frauen durchaus ebenbürtig zu ihren männlichen Kollegen in diesem Fach tätig sein und Freude am Beruf haben.
Noch eine abschließende Frage: Welche konkreten Nachwuchsförderungen bieten Sie im Fachbereich der O und U an?
Für interessierte Studierende, die in unser Fach hinein schnuppern wollen, gibt es jährliche Veranstaltungen vom Jungen Forum O und U, bei denen Vorträge auch von praktischen Übungen am Knochen oder Gipskursen ergänzt werden. Aktuelle Informationen und auch Bilder finden sich auf unserer Website. Hier sind auch kleine Hilfen für den Berufseinstieg zu finden und bald wird es auch ein Berufseinsteigerheft geben. Im Bereich ‚Projekte‘ gibt es eine Auflistung an Mentoring-Programmen. Ganz vorne dabei ist das des Berufsverbands für Orthopädie und Unfallchirurgie. Darüber hinaus steht das Junge Forum allen Berufsanfänger:innen als Ansprechpartner bereit.
Das Junge Forum O und U ist die berufspolitische Interessensvertretung der Assistenz- und Fachärzt:innen in O und U und ist ein Ausschuss der Deutschen Gesellschaft für Orthopädie und Unfallchirurgie (DGOU) und Organ des Berufsverbands für Orthopädie und Unfallchirurgie (BVOU). Auf den Webauftritten dieser Organisationen finden sich viele weitere interessante Informationen.
Dr. med. Lisa Wenzel ist Assistenzärztin an der Berufsgenossenschaftlichen Unfallklinik Murnau mit dem Forschungsschwerpunkt Beckenchirurgie. Sie ist Mitglied der Deutschen Gesellschaft für Orthopädie und Unfallchirurgie (DGOU) sowie des Berufsverbands für Orthopädie und Unfallchirurgie (BVOU) und leitet seit 2018 auch das Junge Forum O und U.
Autorenfoto: © Lisa Wenzel
Beitragsbild: Unsplash/Paul Felberbauer
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