Welche Berufsperspektiven bieten sich in der Arbeits- und Umweltmedizin für den Medizinernachwuchs? Die DGAUM (Deutsche Gesellschaft für Arbeitsmedizin und Umweltmedizin) aus dem Bereich der medizinischen Fachgesellschaften gibt als fundierter Ansprechpartner Auskunft.
Verfügen Sie in Ihrer Fachgesellschaft über demografische Prognosen, wie viele Baby Boomer aus Ihrer Fachdisziplin in den kommenden Jahren aus dem Berufsleben ausscheiden, ohne dass entsprechender Nachwuchs eintritt und sich dadurch ein deutlicher Stellenüberhang entwickeln könnte?
Laut der Ärztestatistik der Bundesärztekammer sind rund 1/3 der ärztlich tätigen Arbeitsmedizinerinnen und Arbeitsmediziner über 60 Jahre alt. Die Anzahl der ärztlich tätigen Arbeitsmediziner*innen und Betriebsmediziner*innen ist in den letzten 10 Jahren stabil geblieben. Ebenso ist die Zahl der Ärztinnen und Ärzte, die sich für eine Weiterbildung auf dem Gebiet der Arbeits- und Betriebsmedizin entscheiden, auf hohem Niveau stabil. Das zeigen die Teilnahmezahlen an den Weiterbildungskursen. Wir gehen deshalb davon aus, dass der Bedarf an betriebs- bzw. arbeitsmedizinischer Expertise auch künftig gedeckt werden kann.
„Die erfreulich hohen Teilnahmezahlen an der verpflichtenden zentralen Kurs-Weiterbildung, genauso wie die steigende Anzahl der Facharztanerkennungen verdeutlichen, dass das Fachgebiet der Arbeits- und Betriebsmedizin zunehmend attraktiver für Ärztinnen und Ärzte wird. Diese tragen zur Umsetzung und zukünftigen Sicherstellung des Gesundheitsschutzes am Arbeitsplatz wesentlich bei.“, erklärt Prof. Volker Harth, Vizepräsident der Deutschen Gesellschaft für Arbeitsmedizin und Umweltmedizin.
Die technologische Entwicklung verläuft vor allem im Bereich KI rasant. An welchen Stellen merken Sie dies bereits jetzt, wie wird es die Arbeit in Ihrem Fachgebiet verändern und wie können sich Medizinstudierende schon heute damit vertraut machen, selbst wenn in der Lehre die neuen Möglichkeiten noch nicht behandelt werden?
Die Dynamik technologischer Entwicklungen im Bereich der Künstlichen Intelligenz (KI) ist auch in der Arbeitsmedizin spürbar. In aktuellen Forschungsprojekten zeigt sich, dass KI-basierte Systeme zunehmend in der Lage sind, betriebsärztliche Prozesse zu unterstützen und neue Zugangswege zu eröffnen.
Ein Beispiel ist das Projekt „BAKI“ am Institut für Arbeits-, Sozial- und Präventivmedizin der Universitätsmedizin Göttingen. Hier wird ein digitales Assistenzsystem zur Unterstützung der arbeitsmedizinischen Betreuung virtuell Beschäftigter entwickelt. Ziel ist es, auf Basis digital erhobener Daten individuelle Gefährdungs- und Ressourcenprofile zu erstellen und damit die betriebsärztliche Betreuung zukunftsorientiert, innovativ und nachhaltig neu zu gestalten. Zugleich werden telemedizinische Formate wie Chatbots und soziale Virtual Reality (VR)-Umgebungen erprobt, um den Zugang zu betriebsärztlichem Wissen im digitalen Arbeitskontext zu erleichtern.
Solche Entwicklungen eröffnen neue Möglichkeiten, stellen aber auch Anforderungen an das Fachgebiet. Arbeitsmedizinisches Handeln wird zukünftig stärker durch datengestützte Analysen, interdisziplinäre Zusammenarbeit und digitale Schnittstellen geprägt sein. Gleichzeitig zeigen Ergebnisse aus unseren Projekten, dass technologische Veränderungen, wie etwa digitale Arbeitsverdichtung oder Techno-Insecurity, auch neue Belastungen erzeugen, die es zu berücksichtigen gilt.
Für Medizinstudierende lohnt es sich deshalb, sich schon jetzt mit den Grundlagen und Einsatzmöglichkeiten von KI im Gesundheitswesen auseinanderzusetzen – auch wenn das Thema noch nicht fest im Curriculum verankert ist. Möglich wird das zum Beispiel durch interdisziplinäre Wahlfächer. So bietet die Universitätsmedizin Göttingen zunehmend zahlreiche Lehrveranstaltungen zum Thema KI in der Arbeits-, Sozial- und Präventivmedizin oder benachbarten Themenfeldern an sowie digitale Lernangebote.
In dem Forschungsprojekt INTERAGENT des Bundesministeriums für Bildung und Forschung wurde mit anderen medizinischen Fachdisziplinen ein praxisnahes KI-Zertifikatsprogramm für Gesundheitsberufe entwickelt, das zukünftig studienbegleitend absolviert werden kann.
Die Integration von KI in die Arbeitsmedizin steht noch am Anfang, ihre Gestaltung ist eine zentrale Zukunftsaufgabe für Forschung, Praxis und Lehre.
Was bieten Sie als Fachgesellschaft an, damit sich Medizinstudierende sicherer werden, ob Ihre Disziplin die passende für sie ist und was sind Ihre drei stärksten Argumente dafür, genau in Ihrem Fachgebiet seine Zukunft als Ärztin oder Arzt zu sehen?
Die DGAUM ist Gründungsmitglied des Aktionsbündnisses Arbeitsmedizin e.V. Es besteht aus mehr als fünfzig namhaften Unternehmen, Verbänden und Versicherungen, Institutionen aus Wissenschaft und der Praxis, Ministerien auf Länder- und Bundesebene. Gemeinsam wollen sie den arbeitsmedizinischen Nachwuchs in Deutschland fördern und mehr Medizinerinnen und Mediziner für die Arbeitsmedizin oder eine betriebsärztliche Tätigkeit gewinnen.
Studierende der Humanmedizin haben die Möglichkeit, sich bei dem des jährlich stattfindenden Nachwuchssymposium eingehend über das Fach Arbeitsmedizin zu informieren. Auf dem Programm stehen hier u.a. ein Speeddating mit Vertreterinnen und Vertretern aus Wissenschaft und Praxis und eine Betriebsbegehung. Außerdem können die Teilnehmenden kostenlos den Kongress unserer Wissenschaftlichen Jahrestagung besuchen.
Das Aktionsbündnis vergibt darüber hinaus jährlich Stipendien: Studierende der Humanmedizin können über die arbeitsmedizinischen Pflichtstunden an der Universität hinaus das Fach Arbeitsmedizin näher kennen lernen, indem sie einen Monat ihrer Famulatur oder ein Tertial ihres Praktischen Jahres in einem Unternehmen oder überbetrieblichen Dienst absolvieren. Das Aktionsbündnis fördert einmalig die Famulatur mit bis zu 500 Euro und einmalig ein Tertial im PJ mit bis zu 1.500 Euro. Bewerben können sich Studierende der Humanmedizin nach abgelegter Ärztlicher Prüfung oder Physikum.
Was sind Ihre drei stärksten Argumente dafür, genau in Ihrem Fachgebiet seine Zukunft als Ärztin oder Arzt zu sehen?
- Arbeitsmedizinische Tätigkeiten sind sehr vielfältig.
Als Betriebsärztin bzw. Betriebsarzt berät man Betriebe und Unternehmen in Fragen des betrieblichen Arbeitsschutzes- und Gesundheitsmanagements. Vom Flugzeug-Cockpit, Fräsmaschinen, Chemielabor über den Hochofen bis hin zum Büro, ist man mit unterschiedlichen Arbeitsplätzen und Tätigkeiten konfrontiert. Die Vielfalt der Mitarbeitenden: jung, erfahren, studiert, angelernt, gesund oder mit chronischen Erkrankungen stellt damit im Zusammenhang mit jedem Arbeitsplatz und jeder Tätigkeit unterschiedliche Anforderungen an die betriebsärztliche Betreuung. Abgesehen von der direkten betriebsärztlichen Tätigkeit eröffnen sich für Arbeitsmediziner/-innen auch noch diverse andere Karrieremöglichkeiten: zum Beispiel in staatlichen Institutionen wie der Gewerbeaufsicht oder in der Wissenschaft an Universitäten und Forschungsinstituten.
- In der Arbeitsmedizin stehen die Verhinderung von Krankheit und die Erhaltung der Gesundheit an erster Stelle.
Prävention spielt in der Arbeitsmedizin die entscheidende Rolle. Sie ist zentraler Bestandteil arbeitsmedizinischen Handelns und wird in unserem Fachgebiet in all ihren Facetten praktiziert – von der Gefährdungsbeurteilung in der Praxis bis zur Grundlagenforschung im Labor. Als Arbeitsmediziner bzw. Arbeitsmedizinerin entwickelt man präventive und gesundheitsfördernde Konzepte, die berufsbedingte Erkrankungen verhindern und ein gesundes Leben und Arbeiten ermöglichen sollen. Die moderne, ganzheitliche Arbeitsmedizin bezieht dabei immer auch Risikofaktoren außerhalb der Arbeitswelt ein, die z.B. die Beschäftigungsfähigkeit gefährden können. Aufgrund des demographischen Wandels wird es künftig immer wichtiger werden Konzepte zu entwickeln, die es den Beschäftigten ermöglichen, möglichst lange und mit guter Gesundheit im Erwerbsleben zu bleiben. Auch generell gewinnt die präventive Medizin zunehmend an Bedeutung gegenüber rein kurativen Ansätzen: Die beste Art eine Krankheit zu behandeln, ist ihre Ursachen zu beseitigen – und sie gar nicht erst entstehen zu lassen.
- Die Arbeitsmedizin wird gesellschaftlich an Bedeutung gewinnen.
Vor dem Hintergrund der Komplexität der Arbeitswelten (u.a. Digitalisierung), demografischen Veränderungen und des Fachkräftemangels wird es für Unternehmen zunehmend wichtiger, für gesundheitsfördernde Arbeitsbedingungen zu sorgen, um modern und konkurrenzfähig zu bleiben. Ältere Arbeitnehmende oder Beschäftigte mit gesundheitlichen Einschränkungen können durch eine gute betriebsmedizinische Betreuung länger erwerbstätig sein. Durch eine gesundheitsfördernde Arbeitswelt wird es möglich, krankheitsbedingte Ausfallzeiten zu reduzieren und damit zusammenhängende Kosten einzusparen. Davon profitieren Unternehmen, die Beschäftigten und auch die Gesellschaft gleichermaßen. Denn gute Prävention am Arbeitsplatz wirkt eben nicht nur am Arbeitsplatz – sie hat im Idealfall auch positiven Einfluss auf alle anderen Lebensbereiche eines Beschäftigten.
Einen Erklärfilm über die Aufgaben der Arbeits- und Betriebsmedizin finden Sie hier.
„Die Arbeitsmedizin bietet sehr unterschiedliche Einsatzmöglichkeiten“
Arbeitsmedizin ist ein Bereich, den man nicht unbedingt mit einer „klassischen“ Arzttätigkeit verbindet. Doch der Schein trügt: Ein Arbeitsmediziner muss nicht nur fachlich hervorragend sein, sondern darüber hinaus auch viele andere Aufgaben wahrnehmen. Was das Berufsfeld so spannend macht und worauf Interessenten an der Weiterbildung in der Arbeitsmedizin achten müssen, erklären Dr. med. Stefanie Bruemmer-Smith, PD Dr. med. Rüdiger Görtz und Dr. med. Anna Wolfschmidt. Sie sind Mitglieder der Arbeitsgruppe Next Generation bei der Deutschen Gesellschaft für Arbeitsmedizin und Umweltmedizin e.V. (DGAUM).
Wie sieht das Aufgabengebiet eines Arbeitsmediziners aus und welches sind die aus Ihrer Sicht wichtigsten Argumente dafür, Arbeitsmediziner zu werden?
Arbeitsmediziner:innen haben die Wechselwirkung zwischen Arbeit und Gesundheit der Beschäftigten im Blick. Es gilt, schädigende Einflüsse auf die Gesundheit zu verhindern oder abzumildern, um gesundheitlichen Schäden vorzubeugen beziehungsweise bestehende Schäden nicht zu verschlimmern. Zusätzlich haben möglicherweise bestehende Vorerkrankungen von Beschäftigten Einfluss auf ihre Arbeits- und Leistungsfähigkeit. In diesen Fällen können Arbeitsmediziner:innen viel dazu beitragen, die Arbeitsfähigkeit und damit das Beschäftigungsverhältnis zu erhalten. Zudem kommt ihnen die Aufgabe eines/einer Vermittler:in zwischen den Arbeitgeber:innen und Arbeitnehmer:innen zu und hat somit auch eine strategische Rolle, vor allem im Bereich der Personalverwaltung.
Damit hat das ärztliche Gespräch im Rahmen der Vorsorge im Unternehmen einen hohen Stellenwert, insbesondere bei Menschen, die selten oder nie Ärzt:innen aufsuchen. Neben Arbeitsschutzausschusssitzungen nehmen Betriebsärzt:innen auch an Betriebsbegehungen teil, um das Arbeitsumfeld sicher und gesundheitserhaltend zu gestalten. Dazu gehört die Beratung in Bezug auf technische und organisatorische Arbeitsschutzmaßnahmen und Arten von persönlicher Schutzausrüstung genauso wie die Wiedereingliederung von Arbeitnehmer:innen nach längerer Erkrankungsphase.
Einer der Vorteile der Arbeitsmedizin ist der planbare Tagesablauf mit festen Terminen und freien Wochenenden. Darüber hinaus bietet sie sehr unterschiedliche Einsatzmöglichkeiten, sei es als Werktsärzt:in bei einer einzigen großen Firma, als Betriebsärzt:in im überbetrieblichen Dienst bei mehreren kleineren und mittelgroßen Betrieben oder bei einer Berufsgenossenschaft, als Gewerbeärzt:in beim Gewerbeaufsichtsamt, als wissenschaftliche:r Mitarbeiter:in am Arbeitsmedizinischen Institut einer Universität oder auch als Gutachter:in.
Welche Kompetenzen, die über fachliche Expertise hinausgehen, benötigt man als Arbeitsmediziner?
Ein:e gute:r Arbeitsmediziner:in hat eine umfassende Kenntnis vom Arbeitsplatz und seinen Gefährdungen und ist in der Lage, Mitarbeiter:innen entsprechend zu beraten. Dabei kann er/sie gut zuhören und holt die Menschen „dort ab, wo sie stehen“. Dazu wird eine ordentliche Portion Empathie und Kommunikationsfähigkeit benötigt. Es macht einen Unterschied, ob jemand gesundheitsbewusst lebt oder nicht. Eine Führungskraft im Büro hat zudem andere Bedürfnisse als Mitarbeiter:innen einer Werkstatt. Gesetzliche Vorgaben und Richtlinien sollten daher individuell, den Abläufen in den Betrieben angepasst umgesetzt werden. Häufig sind die Erfahrungen aus der Akutmedizin beziehungsweise ein kompletter Facharzt aus einer anderen Disziplin unschätzbar wertvoll, um die Qualität der Beratungen und die eigene Kompetenz zu erhöhen. Arbeitsmediziner:innen sind oft Vermittler:innen und müssen individuelle Lösungen für Betriebe und einzelne Mitarbeiter:innen finden. Dazu braucht man, neben den oben genannten Fähigkeiten, Überzeugungskraft und Fingerspitzengefühl.
„Ich schätze die Vielfalt der Arbeitstage: den belebenden Wechsel zwischen Arztkittel und Sicherheitsschuhen, medizinischen Leitlinien und Rechtsvorschriften. Im Alltag habe ich entdeckt: Wir Betriebsärzt:innen retten vielleicht keine Leben im großen Stil, aber Existenzen, indem wir uns in sozialmedizinischen Fragestellungen beratend und unterstützend einbringen und somit auch die Erwerbsfähigkeit von Arbeitnehmer:innen erhalten können“
– Dr. med. univ. Linda Liebich, MHBA, Leitende Betriebsärztin Stadtwerke München GmbH/MVG GmbH
Gibt es denn einen hohen Bedarf an Nachwuchskräften im Ihrem Berufsfeld?
Es wird in allen arbeitsmedizinischen Bereichen händeringend Nachwuchs gesucht. Zwei Drittel aller arbeitsmedizinisch tätigen Ärzt:innen sind älter als 50 Jahre. Das Interesse an dem Fachbereich scheint in den letzten Jahren durchaus gestiegen zu sein, nicht zuletzt aufgrund frustrierender Erfahrungen in der Akutmedizin. Einflussfaktoren wie die gesetzlichen Rahmenbedingungen, die den Bedarf an arbeitsmedizinischer Beratung regeln, die höhere Altersstruktur mit demografischem Wandel der arbeitenden Bevölkerung und die Herausforderungen der Digitalisierung werden die Arbeitsmedizin weiterentwickeln und verändern.
Woran erkennen Studierende, die ihren Facharzt im Bereich der Arbeitsmedizin machen wollen, eine gute Weiterbildungsstelle? Gibt es Faktoren, auf die sie unbedingt achten sollten?
Da die Arbeitsmedizin auch im Studium eher ein Schattendasein fristet, ist es empfehlenswert, in einer möglichen zukünftigen Arbeitsstelle in der Arbeitsmedizin zu hospitieren. Dabei merkt man schnell, ob die arbeitsmedizinischen Tätigkeiten das eigene Interesse wecken oder nicht. Klassische Fragen betreffen natürlich die Qualifikation und Erreichbarkeit des/der Weiterbilder:in und welche Fortbildungsangebote unterstützt werden. Im Rahmen der Weiterbildung sind je dreiwöchige Arbeitsmedizinkurse (A-C) ohnehin verpflichtend bis zur Facharztprüfung durchzuführen. In der fünfjährigen Weiterbildungszeit müssen mindestens zwei Jahre in einem Gebiet der unmittelbaren Patientenversorgung abgeleistet werden, Krankenhausweiterbildung gibt es also nicht unbedingt in der Arbeitsmedizin.
Im Unternehmen oder bei einem überbetrieblichen Dienst sollte nachgefragt werden, ob es eine feste Einarbeitungszeit und -struktur gibt, welche Themen dort abgefragt werden und inwieweit das Spektrum der betriebsmedizinischen Themen während der Weiterbildung abgedeckt wird. Besteht die Möglichkeit, über Zentrumstage viele verschiedene Berufsgruppen zu sehen, oder eventuell für eine Hospitation? Vor allem in großen Betrieben lernt man nicht unbedingt verschiedene Gewerbe kennen. Außerdem gut zu wissen: Gibt es regelmäßige innerbetriebliche Fortbildungen, die gut organisiert und inhaltlich am Curriculum orientiert sind? Und existieren Netzwerke mit anderen Teams und Verbänden oder die Möglichkeit, komplexe Fälle zu besprechen?
Können Sie uns Bereiche in der Arbeitsmedizin nennen, die zurzeit besonders wichtig sind? Welche Veränderungen und Chancen sehen Sie mit der Digitalisierung auf Ihr Berufsfeld zukommen?
Veränderungen in der Arbeitsmedizin betrafen zuletzt zum Beispiel das flexiblere und weiterhin starke Mutterschutzgesetz, die Vorsorge bei natürlicher UV-Strahlung bei beruflichen Tätigkeiten im Freien, die einfachere Anerkennung von Berufskrankheiten sowie durchaus Implikationen durch das Masernschutzgesetz. Im Zuge der Corona-Pandemie kam auch die Anerkennung von Covid-19 als Berufserkrankung hinzu, vor allem im Gesundheitsbereich. Darüber hinaus beschäftigt sich die Arbeitsmedizin mit den Auswirkungen von Corona und dem Lockdown auf die Arbeitswelten als solche: von Homeoffice über Arbeitsplatzverlust bis hin zur Umstrukturierung, Flexibilisierung und der Implementierung neuer Geschäftsfelder. Auch das Thema psychische Erkrankung (Erkennung, Unterstützung und Prävention) wird zunehmend wichtiger.
Die Digitalisierung wird die Arbeitswelt weiter verändern, das heißt, die Erstellung von Erkrankungsprofilen und damit auch die arbeitsmedizinische Beratung könnten zunehmend über digitale Medien erfolgen. Den Kontakt zu den Menschen dabei zu verlieren, sehen wir allerdings als ein Risiko mit Folgen. Gleichzeitig besteht die Chance, durch die Digitalisierung den Mangel an arbeitsmedizinischer Betreuung abzumildern und neue Freiräume sowie freie Zeit für Ärzt:innen zu schaffen. Damit könnte man die Verfügbarkeit und Beratung durch Videochats und Telefonsprechstunden verbessern, Arbeitnehmer:innen könnten ihre Termine selbstständiger organisieren und elektronische Akten und Befundverarbeitung würden den Alltag erleichtern. Das Angebot für Präsenztreffen und Sprechstunden für die Mitarbeiter:innen mit Dringlichkeit könnte somit ergänzt werden.
Für Nachwuchsmediziner spielt Work-Life-Balance eine immer wichtigere Rolle bei der Berufswahl. Wie sieht es diesbezüglich in Ihrem Bereich aus, gerade im Vergleich zu anderen Fachgebieten?
Sicherlich ist das eine der großen Stärken der Arbeitsmedizin. Vielen Arbeitsmediziner:innen ist ihr Privat- beziehungsweise Familienleben sehr wichtig und eine freundliche Kollegialität untereinander ist die Regel. Aufgrund der Planbarkeit der Termine und Aufgaben sind Teilzeitmodelle in allen Bereichen der Arbeitsmedizin möglich. Nacharbeiten am Computer können flexibel auf den Folgetag oder in die Abendstunden gelegt werden. In aller Regel sind die Themen, mit denen sich ein:e Arbeitsmediziner:in beschäftigt, nicht akut, sodass Zeit bleibt, Dinge zu erarbeiten oder eine Beratung zu einem geplanten Zeitpunkt erfolgen zu lassen. Geht es um Eignungsuntersuchungen oder gesetzliche Grundlagen, kann anfangs durchaus bei weniger erfahrenen Kolleg:innen Stress entstehen, da es um den möglichen Verlust eines Arbeitsplatzes geht, aber auch um die Abwendung von konkreten Gefahren.
Besteht die Möglichkeit, sich selbstständig zu machen oder sogar eine eigene Praxis zu gründen?
Selbstständigkeit ist nach dem Facharzt für Arbeitsmedizin oder als Facharzt mit anderem Schwerpunkt mit der Zusatzbezeichnung „Betriebsmedizin“ durchaus denkbar und auch lukrativ. Als eigene:r Unternehmer:in im Bereich Arbeitsmedizin ist man dann für alle Erfordernisse selbstständig verantwortlich: arbeitsmedizinische Vertragsgestaltung und -akquise, Sicherstellung der arbeitsmedizinischen Versorgung der Betriebe, Vorhalten des entsprechenden Equipments, Rechnungsstellung und Abrechnung. Weiterhin häufig anzutreffen: Allgemeinmediziner:innen in einer hausärztlichen Praxis, die sich mit der Erbringung arbeitsmedizinischer Dienstleistungen beschäftigen und ein entsprechendes Honorar zusätzlich zur budgetierten Kassenmedizin erhalten.
Gibt es Spezialisierungen innerhalb Ihres Fachgebiets, die Sie besonders interessant finden?
Spannende Spezialisierungen betreffen die Verkehrsmedizin mit den gesetzlichen Vorgaben der Fahrerlaubnisverordnung. Dabei muss zum Beispiel die Fahrtauglichkeit von LKW-Fahrer:innen mit Vorerkrankungen wie Diabetes oder Epilepsie beurteilt werden. Weiterhin gibt es die Mitwirkung bei arbeitsmedizinischen Leitlinien wie zuletzt die (aktualisierten) Leitlinien zu Tätigkeiten unter Einwirkung von Blei oder von Infrarotstrahlung. Interessante Weiterbildungsthemen in der Arbeitsmedizin sind auch Reise- und Flugmedizin sowie die Spezialisierung auf chronische Lungenerkrankungen und Berufserkrankungen im Bereich der Asbestosen und Silikosen.
Spannend sind auch die sozialmedizinischen Themen, vor allem die berufliche Wiedereingliederung (disability management) mit Beratung zu beruflicher oder medizinischer Rehabilitation, Umschulungen und dergleichen.
„Ich bin als Internist vor einem Jahr in die Arbeitsmedizin gewechselt, weil hier Wert auf ärztliche Beratungsgespräche gelegt wird und ich im überbetrieblichen Dienst verschiedene Arbeitswelten hautnah miterleben und mitgestalten kann. Außerdem lassen sich Beruf und Familie sehr gut miteinander vereinbaren.“
– PD Dr. med. Rüdiger Görtz, Interviewpartner
Was sind momentan viel diskutierte medizinische Themen in Ihrem Fachgebiet?
Die Digitalisierung in der Arbeitsmedizin, die sich etwa in Beratung per Telemedizin (mit Augenmerk auf den Datenschutz) beziehungsweise der Entwicklung einer digitalen Arzt-Patienten-Beziehung äußert, wird momentan viel diskutiert. Außerdem der Umgang mit dem demografischen Wandel aus Sicht der Betriebsärzt:innen als Berater:innen der Arbeitgeber:innen. Brandaktuell sind auch die psychosozialen Auswirkungen der Coronakrise – zum Beispiel der stark beschleunigte Wandel der Arbeitsformen, Arbeitsorte, Arbeitsorganisation und die erwartete Zunahme des psychosozialen Beratungsbedarfs. Dauerthemen sind darüber hinaus der relative Mangel an Arbeitsmediziner:innen bei steigendem Beratungsbedarf. Außerdem die schlechte medizinische Versorgung in Kleinst-, Klein- und mittelgroßen Unternehmen. Aber auch die Weiterentwicklung von reinen „Vorsorge“-Tätigkeiten hin zu Beratung und Gesundheitsprävention wird viel diskutiert.
Sie sagten selbst, dass die Arbeitsmedizin im Studium häufig zu kurz kommt. Damit gehen zwangsläufig falsche Vorstellungen einher. Was sind die gängigsten Vorurteile gegenüber Ihrem Fachgebiet, die Sie gerne richtigstellen würden?
Aufgrund des in der Regel präventiven Charakters der arbeitsmedizinischen Arbeit muss man sich gedanklich von der Therapie einer ursächlichen Erkrankung, wie es in der klassischen Medizin der Fall ist, verabschieden. Arbeitsbedingt krankmachende Faktoren auszuschalten oder zu minimieren und damit eine Erkrankung zu verhindern oder Menschen mit Erkrankungen oder gesundheitlichen Einschränkungen in der Arbeit zu halten, das sind die befriedigenden Erfolgserlebnisse. Dem Bild des/der matten Arbeitsmediziner:in als Schreibtischtäter gilt es entschieden zu widersprechen: Engagement, Expertise und zügiges Handeln werden auf allen Ebenen der betreuten Betriebe wertgeschätzt und anerkannt. Der/die Arbeitsmediziner:in ist nicht der klassische „Ärmel hoch, wo steht das Klavier“-Arzt und wird gerade von den chirurgischen Fachrichtungen daher oft nicht ernst genommen. Seine/ihre Rolle ist aber sehr wichtig und setzt solides medizinisch-internistisches Wissen voraus. Gerade die aktuelle Corona-Pandemie zeigt die Bedeutung einer arbeitsmedizinischen Expertise deutlich auf, wenn es darum geht, das Infektionsrisiko innerhalb eines Unternehmens zu minimieren.
Welche konkreten Projekte zur Nachwuchsförderung gibt es bei der DGAUM? Dabei denken wir vor allem an Mentoring-Programme, die den angehenden Medizinern beim Berufseinstieg helfen können.
Im Rahmen der Jahrestagung der DGAUM im Jahr 2019 wurde die Gründung einer Arbeitsgemeinschaft für junge Arbeitsmediziner:innen (AG Next Generation) initiiert. Die AG Next Generation strebt eine Vernetzung der jungen Akteur:innen in der Arbeitsmedizin an und adressiert in ihrer Arbeit in erster Linie Themenfelder, die den arbeitsmedizinischen Nachwuchs betreffen. Eines ihrer größeren Projekte, die sich aktuell in Planung befinden, ist der Aufbau eines Mentoring-Programms. Die Vision ist dabei die Schaffung eines deutschlandweiten Netzwerks von Mentor:innen aus allen Bereichen der Arbeitsmedizin, von denen jede:r eine Gruppe von 10 bis 15 Mentees betreut. Die Gruppen sollen sich gezielt aus Mentees aller arbeitsmedizinischen Tätigkeitsfelder (Wissenschaft, Unternehmen, überregionale Dienste, „Freiberufler:innen“) zusammensetzen, um den Austausch zwischen den jeweiligen Professionen zu fördern. Es erfolgt im Idealfall auch eine Vernetzung der Mentoring-Gruppen untereinander. Die Mentor:innen sollen den Mentees darüber hinaus auch als Ansprechpartner:innen bei Fragen zu Beruf und Karriere zur Verfügung stehen und können bei Bedarf auch den Kontakt zu Expert:innen aus anderen Feldern der Arbeitsmedizin herstellen.
Dr. med. Stefanie Bruemmer-Smith ist Fachärztin für Anästhesie und Intensivmedizin am Cert of PH sowie Fachärztin für Arbeitsmedizin bei der Vilua Healthcare GmbH, Berlin.
PD Dr. med. Rüdiger Görtz ist Betriebsarzt und Facharzt für Innere Medizin am Gesundheitszentrum Erlangen und in der B.A.D Gesundheitsvorsorge und Sicherheitstechnik GmbH.
Dr. med. Anna Wolfschmidt ist Assistenzärztin für Arbeitsmedizin sowie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut und der Poliklinik für Arbeits-, Sozial- und Umweltmedizin der FAU Erlangen-Nürnberg.
Alle drei Interviewpartner:innen sind Mitglieder der Arbeitsgruppe Next Generation bei der Deutschen Gesellschaft für Arbeitsmedizin und Umweltmedizin e.V. (DGAUM). Die AG setzt sich für die Nachwuchsförderung auf dem Gebiet der Arbeitsmedizin ein.
Beitragsbild: © pixabay/Capri23auto
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