Hausärzte haben eine sehr hohe Berufszufriedenheit – dennoch entscheiden sich wenige junge Mediziner für diese fachliche Weiterbildung. Dadurch steigt das Durchschnittsalter in diesem Bereich rapide an. Prof. Anne Simmenroth, Mitglied im geschäftsführenden Präsidium der DEGAM, und Dr. Marco Roos, Sprecher der DEGAM-Sektion Weiterbildung erklären Ihnen, warum die Allgemeinmedizin eines der spannendsten Gebiete ist.
Die Entscheidung für die fachliche Weiterbildung ist nicht für immer einfach. Für wen ist die Schiene des Allgemeinmediziners die beste Wahl?
Marco Roos: Für eine Weiterbildung zur Facharztanerkennung in der Allgemeinmedizin sollten sich junge Ärzte/innen entscheiden, die Patienten/innen über ihr ganzes Leben begleiten wollen. Im Gegensatz zu Gebietsspezialisten, die sich tief greifend mit einem Organ oder wenigen Erkrankungen auseinandersetzen, hat die Allgemeinmedizin den ganzen Menschen im Mittelpunkt. Hausärzte/innen bieten die Grundversorgung aller Patienten/innen mit körperlichen und seelischen Gesundheitsstörungen in der Notfall-, Akut- und Langzeitversorgung sowie wesentliche Bereiche der Prävention und Rehabilitation. Sie sind spezialisiert als erste ärztliche Ansprechpartner bei allen Gesundheitsproblemen zu helfen.
Welche Kenntnisse, sowohl fachliche als auch Soft Skills, sind unabdingbar in Ihrem Bereich?
Anne Simmenroth: Gute soziale und kommunikative Kompetenzen, die Bereitschaft, empathisch zu sein und eine gute Resilienz sind essenziell. Das Interesse an Menschen und deren Biografie, die Bereitschaft, eigenes Wissen immer wieder infrage zu stellen, sich Rat bei anderen zu holen und lebenslang zu lernen darf man dabei auch nicht unterschätzen. Allgemeinmediziner sollten auch interprofessionell und interdisziplinär arbeiten können und wollen sowie Freude an unerwarteten Situationen und Konstellationen haben.
Können Sie einschätzen, wie momentan der Nachwuchsbedarf in Ihrem Bereich aussieht?
Roos: Auch die Allgemeinmedizin hat selbstverständlich Bedarf an zukünftigen Hausärztinnen und Hausärzten. Wie in den anderen Fachdisziplinen auch, führen ein verändertes Verständnis von Work-Life-Balance und der Wunsch nach Teamarbeit zu veränderten Anforderungen an den Arbeitsplatz. In Bayern sind beispielsweise ein Drittel der praktizierenden Hausärzte/innen bereits über 65 Jahre alt. Daher werden bedarfsorientierte Lösungen zur Aufrechterhaltung der Versorgung benötigt. Das Modell der Einzelpraxis von Hausärzten/innen stirbt nicht aus, jedoch nehmen Gemeinschaftspraxen, Angestelltenverhältnisse und Teilzeitarbeit auch in der Allgemeinmedizin zu. Diese Flexibilität wissen auch immer mehr junge Ärzte/innen zu schätzen und entscheiden sich daher für eine Weiterbildung in der Allgemeinmedizin.
Ein junger Mediziner ist auf der Suche nach einer Weiterbildungsstätte, worauf muss er oder sie dabei achten?
Roos: Die wichtigste Grundregel ist, dass der Weiterbildungsbefugte für den Weiterbildungsabschnitt auch eine Befugnis besitzt – diese Information lässt sich bei der jeweiligen Ärztekammer abrufen. Dann ist es natürlich wertvoll, Informationen von Kollegen/innen zu erhalten, die bereits einen Abschnitt ihrer Weiterbildung in der Einrichtung absolviert haben. Für die Allgemeinmedizin sind hierbei die flächendeckend über Deutschland verteilten Stammtische der Jungen Allgemeinmedizin Deutschland eine ideale Anlaufstelle. In der Allgemeinmedizin gibt es auch in jedem KV-Bezirk eine Koordinierungsstelle (KoStA), dort sind Informationen zu Weiterbildungsstellen und deren Programme veröffentlicht. Im direkten Gespräch mit dem Weiterbildungsbefugten sollte nach einem Weiterbildungscurriculum – also einem Plan, in welchen Zeitabschnitten welche Inhalte entwickelt werden – gefragt werden. Dazu sind Fragen nach der Anzahl von Weiterbildungstagen zur individuellen Vertiefung von Kenntnissen und Unterstützung für externe Fortbildungen wichtig.
An welchen Themen wird in Ihrem Gebiet gerade geforscht? Hat die Künstliche Intelligenz hier einen möglichen Nutzen?
Simmenroth: Die akademische Allgemeinmedizin engagiert sich vor allem in der Versorgungsforschung wie schon der Arbeitskreis Versorgungsforschung beim wissenschaftlichen Beirat der Bundesärztekammer 2004 meinte: „Versorgungsforschung ist die wissenschaftliche Untersuchung der Versorgung von Einzelnen und der Bevölkerung mit gesundheitsrelevanten Produkten und Dienstleistungen unter Alltagsbedingungen.“ Die Methoden stammen unter anderem aus den Sozial- und Wirtschaftswissenschaften, und zunehmend werden auch klinische Studien in Praxen durchgeführt. Ein weiterer Schwerpunkt ist zum Beispiel die Lehrforschung im Hochschulkontext.
KI wird vor allem im Bereich der Praxis-EDV eingesetzt, beispielsweise werden beim Verordnen eines neuen Medikamentes automatisch Wechsel- und Nebenwirkungen angezeigt oder aktuelle Leitlinien eingeblendet und intelligente Programme können mit Texterfassung beim Dokumentieren helfen.
„Die Möglichkeit sich selbstständig zu machen ist eine der großen Stärken
in der Allgemeinmedizin“
Die Work-Life-Balance und Teilzeitmodelle sind wichtige Kriterien bei der Entscheidung für eine Weiterbildung. Wie sieht es da in der in Ihrem Bereich aus?
Simmenroth: Die Allgemeinmedizin ist ein klassisches Fach für die Teilzeit-Tätigkeit. Der Anteil an Frauen in der Weiterbildung wächst beständig und die Phase der Familiengründung liegt sehr oft während der Facharzt-Weiterbildung und den ersten Jahren nach der Facharztprüfung. Abgesehen von der Zeit im Krankenhaus (zum Beispiel in der Inneren Medizin, wo teilzeitiges Arbeiten möglich, aber etwas schwieriger ist) sind alle anderen Abschnitte gut in Teilzeit umsetzbar, besonders die 24 Monate in der Hausarztpraxis und später als angestellte Ärzte/innen. Auch als Praxisin- oder teilhaber kann man die Arbeitszeit selber einteilen und entscheiden, an welchen Nachmittagen in der Woche man Sprechstunden anbietet. Das wiederum geht besser, wenn man mit mehreren Kollegen zusammen in der Praxis arbeitet und kein „Einzelkämpfer“ ist. Hausärzte/innen haben eine sehr hohe Berufszufriedenheit.
Die Möglichkeit, sich selbstständig zu machen ist im Gegensatz zu anderen Fachrichtungen in der Allgemeinmedizin weitgehend bekannt. Wo liegen hier die größten Hürden?
Roos: Die Möglichkeiten sich selbstständig zu machen und sowohl inhaltlich wie ökonomisch autonom zu handeln sind natürlich eine Stärke der Allgemeinmedizin. Betrachtet man die Zahlen zu wirtschaftlichen Aufgaben von Praxen, so muss man es auch als eine risikoarme Entscheidung betrachten. Dennoch scheint in der Möglichkeit zur Selbstständigkeit für einen großen Teil der jungen Ärzte/innen die größte Hürde zu liegen. Das liegt vermutlich daran, dass solche Themen in der Aus- und Weiterbildung bisher unterrepräsentiert waren. Für die Zukunft sehen wir, dass Angebote zur Auseinandersetzung mit Betriebswirtschaft diese Hürde reduzieren.
Worüber diskutieren Sie momentan in Ihrem Fachbereich besonders häufig?
Roos: Die Digitalisierung im Gesundheitswesen und ihre Auswirkungen auf die Versorgung von Patienten ist ganz weit oben auf der Diskussionsliste – und das nicht nur durch die Covid-19-Pandemie. Dazu rücken auch immer stärker die Auswirkungen des Klimawandels auf die Gesundheit und die Versorgung von Patienten/innen in den Fokus. Zu beiden Themengebieten hat die Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin verschiedene Arbeitsgruppen eingerichtet, in denen die wissenschaftlichen Erkenntnisse mit der Praxisorientierung von vielen niedergelassenen Kolleginnen und Kollegen diskutiert und in Handlungsempfehlungen zusammengefasst werden.
Gibt es Vorurteile gegenüber den Hausärzten, die Sie besonders stören?
Simmenroth: Viele sind der Ansicht, die Allgemeinmedizin sei langweilig und nur zuständig für „Husten-Schnupfen-Krankschreibung“ – das Gegenteil ist der Fall: Wir behandeln Patienten/innen jeden Alters und sind meist der erste Ansprechpartner im Gesundheitssystem. Wir begleiten Familien über viele Jahre hinweg. Jede Sprechstunde ist spannend und herausfordernd: Vom Notfall bis zum langen Gespräch über lebensverändernde Diagnosen kann alles dabei sein. Wir brauchen ein breites Fachwissen und gute kommunikative Fähigkeiten, um uns auf unsere verschiedenen Patienten einstellen zu können.
Welche Nachwuchsförderungen oder Mentoring-Programme gibt es, die junge Mediziner gezielt unterstützen?
Simmenroth: Für Studierende gibt es – abgesehen von dezentralen Angeboten an den einzelnen Universitätsstandorten mit Summer und Winter Schools, Schwerpunktcurricula und Mentoring – eine Nachwuchsakademie der Stiftung der Fachgesellschaft, die unter anderem persönliches Mentoring über 3 Jahre, Klausurwochenenden und Forschungsförderung anbietet. In jedem Bundesland gibt es sogenannte „Kompetenzzentren Weiterbildung Allgemeinmedizin“, dort vernetzen und treffen sich Ärzte/innen in Weiterbildung, erhalten regelmäßig Seminare und Prüfungsvorbereitungen und ein Einzel- und Gruppenmentoring.
Prof. Dr. med. Anne Simmenroth ist Leiterin des Instituts für Allgemeinmedizin am Universitätsklinikum Würzburg und Mitglied des Präsidiums der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM).
Dr. med. Marco Roos ist Sprecher der DEGAM-Sektion Weiterbildung und Leiter des Kompetenzzentrums Weiterbildung Allgemeinmedizin Bayern (KWAB).
Autorenfotos: © DEGAM
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