Der Beruf des Chirurgen wird häufig mit einer rein handwerklichen Tätigkeit im OP gleichgesetzt. Doch welche Kompetenzen werden darüber hinaus in der fachärztlichen Weiterbildung in der Chirurgie vermittelt? Und für wen eignet sich eine Karriere auf diesem Gebiet besonders? Diese und mehr Fragen beantwortet PD Dr. med. Benedikt Braun vom Berufsverband der Deutschen Chirurgen e.V. (BDC).
Herr Braun, welche Argumente können Sie unseren Lesern dafür nennen, die fachärztliche Weiterbildung in der Chirurgie zu absolvieren?
In der Chirurgie ist die Möglichkeit sehr groß, eine Nische für sich zu finden, die einen auf lange Sicht erfüllt und glücklich macht. Als ein Beispiel will ich nur einmal exemplarisch die Spannbreite von der konservativen Orthopädie bis zur höchst filigranen, rekonstruktiven Handchirurgie anführen, die zeigt, wie breit das Fach Chirurgie mit den verschiedenen Facharztdisziplinen geworden ist.
Das stärkste Argument für eine Hinwendung zur Chirurgie ist der häufig unmittelbare Charakter des Fachs. Oftmals gibt es eine eindeutige, akut aufgetretene Erkrankung oder Verletzung, die eine möglichst schnelle Lösung für den Patienten erfordert. Zum Beispiel die luxierte Schulter, bei der man in der Regel mit einer guten Technik dem Patienten direkt helfen kann. Der Effekt der eigenen Arbeit ist unmittelbar sichtbar. Das kann in meinen Augen fast kein anderes Fachgebiet in einer solchen Breite und so kurzer Zeit bieten. Gleichzeitig gibt es aber auch Behandlungsverläufe, bei denen wir die Patienten über eine lange Zeit begleiten und deren Heilungsverläufe steuern.
Natürlich ist auch der OP selbst ein wesentliches Argument für das Fach – sicherlich eine Arbeitsumgebung wie keine andere. Es erfordert eine gute Vorbereitung, Teamarbeit und höchste Konzentration und Präzision, und das für eine Vielzahl von Operationen mit ganz unterschiedlichen Herausforderungen. Wem das nicht liegt, der hat in der Chirurgie die Möglichkeit, mit Elektiveingriffen und gut organisierten Sprechstunden einen weitestgehend geregelten Tag ohne große Überraschungen zu gestalten.
Welche Kompetenzen, die über fachliche Expertise hinausgehen, sollte man als Chirurg mitbringen?
Das ist immer ein wenig individuell, denn jeder Patient ist anders – und das ist auch gut so. Sehr wichtig ist es, mit ihnen auf Augenhöhe zu sprechen und einfühlsam verschiedene therapeutische Optionen und deren Notwendigkeit verständlich erörtern zu können. Wie bereits angesprochen sind viele Aspekte der Chirurgie sehr unmittelbar, ein gutes Arzt-Patientenverhältnis, das auf entsprechender Kommunikation fußt, ist daher immer wichtig. Gerade auch, wenn es mal einen Rückschlag im Behandlungsverlauf gibt. Auch sonst ist eine gute Kommunikation entscheidend im Klinikalltag: Zum einen zur Koordination des interprofessionellen Behandlungsteams, aber auch in der Absprache mit Zuweisern, Nachbehandlern, Verwaltung oder Industrie und Forschungspartnern.
Besteht in Ihrem Fachbereich ein großer Nachwuchsbedarf?
Unsere Gesellschaft altert kontinuierlich, davon sind auch Ärztinnen und Ärzte in der vertragsärztlichen Versorgung betroffen. Das Durchschnittsalter der Ärztinnen und Ärzte sowie der Psychotherapeutinnen und -therapeuten in diesem Sektor ist von rund 51,9 Jahren im Jahr 2009 auf 54,3 im Jahr 2019 gestiegen. Unter den Chirurginnen und Chirurgen sind etwa 69 Prozent über 50 Jahre alt, über 25 Prozent sogar über 60! Da ist es nicht verwunderlich, dass das Wirtschaftsforschungsinstitut WifOR und die Beratungsagentur PricewaterhouseCoopers der Chirurgie eine Facharztlücke von mehr als 20 Prozent prognostizieren – und das bereits für das Jahr 2030.
Es besteht also ganz generell ein Bedarf an qualifiziertem Nachwuchs. Dieser ist derzeit regional noch unterschiedlich ausgeprägt, wird aber schon jetzt von der Mehrheit der chirurgischen Kolleginnen und Kollegen in Leitungspositionen wahrgenommen. Die Gründe hierfür sind allerdings nicht nur am demografischen Wandel festzumachen, sondern vielmehr an den Rahmenbedingungen, welche die aktuelle Versorgungsstruktur und politischen Gegebenheiten bieten. Wer Interesse an diesem Thema hat und tiefer in die Problematik einsteigen möchte, findet in der Literatur viele Analysen. Ganz besonders möchte ich dabei auf die Weiterbildungsumfrage des Perspektivforums Junge Chirurgie und des Berufsverbandes der Deutschen Chirurgen e.V. (BDC) hinweisen, an der ich auch selbst mitgewirkt habe. Darin zeigen wir nicht nur die nachwuchsrelevanten Probleme, sondern auch Lösungsmöglichkeiten dafür auf.
Welche Fragen würden Sie Nachwuchsmedizinern empfehlen, die wissen wollen, ob sich die konkrete Weiterbildungsstelle für sie eignet?
Für mich selbst war es immer wichtig, neben der klinischen Arbeit auch einen Teil meiner Zeit in der klinischen Forschung und Lehre zu verbringen. Daher war eine Universitätsklinik als Arbeitgeber fast unumgänglich. Die wichtigste Voraussetzung ist daher zunächst, die eigenen Ansprüche und Erwartungen an den Arbeitgeber, aber auch die an sich selbst realistisch zu formulieren. Nur wenn man weiß, wohin man möchte, kann man sich eine geeignete Weiterbildungsstelle aussuchen.
Ansonsten ist es immer sehr hilfreich, den Arbeitsplatz kennenzulernen, indem man eine Hospitation vor Ort macht. So bekommt man einen direkten Einblick in die Verhältnisse: Wie ist die Stimmung im Team? Sind die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zufrieden? Kann der OP-Katalog für die Facharztausbildung fristgerecht absolviert werden? Wie sind die Arbeitszeiten und Überstundenregeln? Gibt es Möglichkeiten, einen eigenen klinischen Schwerpunkt zu verfolgen? Wie sieht es mit der Forschung aus, etwa in Bezug auf Finanzierung und Arbeitsgruppen? Das ist nur eine kleine Liste an Fragen, die jeder natürlich noch auf seine eigenen Bedürfnisse zuschneiden sollte. Ein kleiner Tipp noch für alle Hospitanten: Wer wirklich wissen will, wie es mit der operativen Weiterbildung aussieht, der sollte sich einfach mal im OP-Plan die Mitarbeiter-Einteilungen der letzten Wochen zeigen lassen. Das beantwortet oft schon viele Fragen.
Welche medizinischen Fortschritte gibt es momentan und in Zukunft auf dem Feld der Chirurgie?
Die Forschung in der Chirurgie ist sehr breit aufgestellt. Als Unfallchirurg und Orthopäde habe ich vornehmlich Einblick in die Themen aus diesem Fachgebiet, natürlich unter dem gewissen Filter des eigenen Interesses. Am spannendsten für mich sind dabei aktuell die Möglichkeiten, die in der immer präziseren, objektiven Erfassung von Heilungsverläufen entstehen. Sie lassen eine zunehmende Individualisierung der Behandlung und ihrer Rahmenbedingungen zu. Das fängt bei einfachen, kommerziellen Wearables an und geht bis zu spezialisierten Messinstrumenten, sowohl extern als auch implantierbar.
Unserer Arbeitsgruppe arbeitet beispielsweise zusammen mit verschiedenen technischen Instituten unserer Universität daran, eine individualisierte Simulation für Patienten mit Schienbeinbrüchen zu entwickeln, die eine Vorhersage über die mechanischen Bedingungen im Bruchspalt infolge der Gangbelastung erlaubt. Auch die Möglichkeiten von Künstlicher Intelligenz finden langsam Einzug in die Chirurgie. Die Vielzahl an Behandlungsinformationen, die durch den Einsatz von Kliniksystemen vorliegen, erleichtern dabei nicht nur die Risikokalkulation verschiedener Eingriffe, sondern werden in Zukunft auch den Einfluss einzelner Therapieaspekte auf das Heilungsergebnis besser denn je erfassen können.
Für junge Mediziner ist die Work-Life-Balance ein zunehmend wichtiger Faktor. Wie sieht es diesbezüglich in Ihrem Fachbereich aus?
Den Begriff Work-Life Balance finde ich etwas unpassend. Er suggeriert, dass Arbeit und Leben streng voneinander getrennt sind. Ich gehe meistens sehr gerne zur Arbeit und habe große Freude daran, meinen Beruf auszuüben. Meine Arbeit ist also nicht diametral meinem Leben gegenübergestellt, wie es der Begriff der Balance nahelegt, sondern ein ganz wesentlicher Teil meines Lebens. Nach meiner Definition sind gute Rahmenbedingungen bei der Arbeit, die eine Ausübung des Berufes mit Freude ermöglichen, viel wichtiger.
Inwieweit die Rahmenbedingungen zu einem selbst passen, hängt sicherlich vom Anspruch ab und ist immer auch mit einer gewissen Prise Realismus zu beurteilen. Wer gerne bei langen und aufwendigen Operationen mitwirkt und diese irgendwann eigenverantwortlich durchführen will, der kann nicht erwarten, jeden Tag zur selben Uhrzeit zu Hause zu sein. Anders herum ist es auch möglich, innerhalb des Fachbereichs eine Weiterbildung und Spezialisierung zu finden, die eine deutlich höhere Planbarkeit erlaubt. Neben dem eigenen Anspruch ist das auch oftmals vom Arbeitgeber abhängig – da gibt es innovative und weniger innovative, gerade wenn es um Aspekte wie Teilzeitarbeit und Elternzeit geht. Ich selbst bin in einer Abteilung ausgebildet worden, in der Elternzeiten überhaupt kein Problem sind und von mehr als 50 Prozent der jetzigen Oberärzte wahrgenommen wurden.
Kann man als Chirurg eine eigene Praxis eröffnen?
Meiner Wahrnehmung nach gibt es zumindest in unserer Region gute Möglichkeiten, eine Praxis zu übernehmen oder in eine Praxisgemeinschaft einzusteigen. Auch einige meiner Kolleginnen und Kollegen gehen diesen Weg gerade ganz bewusst. Eine Hürde könnten in meinen Augen die gänzlich anderen ökonomischen und politischen Rahmenbedingungen sein, unter denen man fortan sein Fach ausübt und die im Rahmen der Ausbildung an einer Uniklinik so nicht existieren. Wenn man aber in eine Praxisgemeinschaft einsteigt, findet man hierzu schnell Hilfe, und auch der BDC unterstützt die Kollegen und Kolleginnen sehr gut mit einem entsprechenden Informations- und Beratungsangebot.
Wie sieht die Arbeitsbelastung derzeit in den Kliniken aus?
Bedarf für qualifizierten Nachwuchs besteht eindeutig, die Chancen für Nachwuchs-Chirurginnen und -Chirurgen, eine Wunschstelle zu bekommen, sind daher sehr gut. Allerdings liegt darin auch ein gewisses Hindernis, gerade hinsichtlich des angesprochenen Punktes der Arbeitsbelastung. Wo es Bedarf gibt, besteht eben im Umkehrschluss auch Mangel. Das führt mancherorts dazu, dass dieses Defizit durch die Kolleginnen und Kollegen kompensiert werden muss und man neben dem Positiven, den vielen OPs, dann eben auch das Negative, beispielsweise viel Dokumentationsarbeit zu erledigen hat. Auch hier gibt es wiederum Arbeitgeber, die durch gutes, unterstützendes Personalmanagement das ärztliche Personal entlasten. Das zeigt einmal mehr, warum die Hospitation vor Antritt einer Arbeitsstelle so wichtig sein kann.
Gibt es Spezialisierungen oder Teilbereiche der Chirurgie, die besonders spannend sind?
Das ist nur persönlich zu beantworten. Innerhalb meines Fachgebietes ist für mich schon seit längerem die Chirurgie der unteren Extremitäten am interessantesten. Eigenständige Mobilität zu erhalten, zu fördern oder noch einmal herzustellen, ist nicht nur vor dem Hintergrund der demografischen Entwicklung unserer Gesellschaft, sondern allgemein höchst relevant. In der Chirurgie gibt es so viele spannende Themengebiete, die Raum für persönliche Entfaltung und Beschäftigung bieten, dass eigentlich für jeden etwas dabei ist. Informationsmaterial über die Möglichkeiten, die das Fach bietet, kann man auf der Website des BDC abrufen.
Welche Themen treiben die Chirurgie momentan besonders um?
Ein Thema, dass wirklich alle Disziplinen innerhalb der Chirurgie betrifft und das auf keinem Kongress fehlt, ist der bereits erwähnte Nachwuchsmangel. Nach wie vor verlieren wir durch die Rahmenbedingungen, die während der Ausbildung geboten werden, zu viele Studierende im Laufe der Ausbildung. Man hat manchmal den Eindruck, und Zahlen legen dies auch nahe, dass mit zunehmender Exposition der Studierenden im Arbeitsalltag auch ihre Motivation sinkt, ein chirurgisches Fach zu erlernen. Dabei liegen viele Möglichkeiten auf der Hand, die den Beruf für den Nachwuchs attraktiver machen würden: Die Gewährleistung einer strukturierten Weiterbildung, transparente OP-Zuteilungen, eine adäquate Kinderbetreuung, ein klinikinternes Mentoring oder auch die Reduktion arztfremder Tätigkeiten im Arbeitsalltag.
Welche gängigen Vorurteile über die Chirurgie würden Sie gerne einmal entkräften?
Ich glaube, das stereotype Bild des „Macho-Chirurgen“ mit einer Rollenvorstellung, in der Chirurginnen keinen Platz haben, dafür aber Sportautos und ganz allgemein viel Sport, ist in der heutigen Zeit vollständig überholt – und war es eigentlich schon immer. Ausnahmen wird es natürlich immer geben, aber die gibt es auch in anderen Fachgebieten. Heute ist die Chirurgie auf einem guten Weg hin zu einer geschlechtsunabhängigen, gleichberechtigten Fachdisziplin. Sicherlich wird es noch einige Zeit brauchen, bis eine flächendeckend gleichberechtigte Chirurgie in Deutschland Realität ist, aber ein Bewusstsein dafür und einen andauernden Diskurs gibt es. Wie auch in der Nachwuchsförderung hat der BDC ein eigenes Themenreferat hierzu eingerichtet, das sich unter anderem auch mit dem Thema Operieren in der Schwangerschaft beschäftigt.
Mit welchen konkreten Maßnahmen unterstützt der BDC medizinischen Nachwuchs auf seinem Gebiet?
Förderungen gibt es beim BDC auf verschiedenen Ebenen. Zunächst einmal sind die Interessen des Nachwuchses durch ein eigenes Themenreferat im Präsidium repräsentiert. Bereits für Schülerinnen und Schüler gibt es die Möglichkeit, sich über den Chirurgenberuf zu informieren und gerade auch über die BDC-Mitglieder vor Ort einen Einblick in dieses Fach zu bekommen. Für Studierende besteht ein breites Angebot, von online aufbereiteten Informationen zu Beruf und Spezifika der beteiligten Fachgebiete über Kursangebote an verschiedenen Standorten und Spezialkurse zum Erlernen erster chirurgisch relevanter praktischer Fertigkeiten hin zur individuellen Beratung durch die Geschäftsstelle und das Themenreferat. Es gibt eine Vielzahl an Möglichkeiten, um Informationen und Unterstützung zu erhalten.
Gerade auch zum Ende des Studiums gibt es gemeinsam mit dem Berufsverband Deutscher Internisten (BDI) einen Vorbereitungskurs auf das mündliche Examen, der nicht nur das Wissen, sondern auch die für die Prüfung notwendigen Soft Skills vermittelt. Hier hört die Nachwuchsförderung aber nicht auf: Der BDC bietet Kurse, Kongressangebote und Weiterbildungsmaterial an, die auf den jeweiligen Ausbildungsstand der Assistenz, Fach- und Oberärzte zugeschnitten sind und die von Spezialkursen zu Themen wie Krankenhausmanagement, Führungsverhalten oder robotischer Chirurgie ergänzt werden. Im Grunde findet man in allen Ausbildungsabschnitten Angebote, Hilfen und persönliche Ansprechpartner. Und auch danach stehen wir beispielsweise bei den Themen Rente und „Silver Worker“ mit Rat zur Seite.
PD Dr. med. Benedikt Braun ist Oberarzt für Unfall- und Wiederherstellungschirurgie an der BG Klinik Tübingen und Leiter der Sektion Untere Extremität. Darüber hinaus ist er seit 2018 Beauftragter für Nachwuchsförderung des Berufsverbandes der Deutschen Chirurgen e.V. (BDC).
Beitragsbild: Pixabay/ymkaaaaaa
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