Bei der Wahl der fachlichen Weiterbildung haben junge Mediziner eine Vielzahl von Bereichen für die sie sich entscheiden können – da ist es leicht, mal den Überblick zu verlieren. Dr. med. Dr. med. dent. Daniel Thiem, Weiterbildungsassistent und wissenschaftlicher Mitarbeiter im 4. Weiterbildungsjahr, stellt uns hier sein Fachgebiet vor: die Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie.
Herr Dr. Dr. Thiem, unser Ziel ist es dem Medizinernachwuchs bei der Entscheidung zu helfen, welche fachärztliche Weiterbildung die richtige ist. Was sind Ihrer Meinung nach die besten Gründe dafür, Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurg zu werden?
Die Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie ist vor allem durch die interdisziplinäre Zusammenarbeit mit verschiedenen Fächern aus den Bereichen Human- und Zahnmedizin geprägt. Als Bindeglied beider Fachgebiete genießt sie in den meisten Kliniken ein hohes Ansehen. Sie umfasst ein unglaublich spannendes und weit gefächertes Behandlungsspektrum, das von der dentoalveolären Chirurgie, Weisheitszahnentfernung über dentale Implantologie, der Korrektur von Kieferfehlstellungen, der Traumatologie des Gesichtsschädels, der Tumorchirurgie, der kosmetisch-plastischen Chirurgie bis hin zur komplexen mikrovaskulär-rekonstruktiven Chirurgie reicht.
Neben den abwechslungsreichen klinischen Inhalten erfordert die Weiterbildung das Zweitstudium der Zahnmedizin. Dieses Doppelstudium aus Human- und Zahnmedizin bildet die Grundlage für die moderne Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie und ist Voraussetzung für die Facharztprüfung nach einer fünfjährigen Weiterbildung. Dabei ist es unerheblich, ob zuerst Human- oder Zahnmedizin studiert wird. Die medizinische Approbation bietet allerdings die Möglichkeit, bereits parallel zum Zahnmedizinstudium an einer Klinik zu arbeiten und somit Weiterbildungszeit zu erwerben. Obwohl die gesamte Aus- und Weiterbildung zum Facharzt durch das erforderliche Doppelstudium etwas länger dauert, bietet sie jungen Assistenzärzten/innen den frühen Einstieg in den praktischen Alltag als Chirurg/in, in einem Gebiet, das keine Fehler verzeiht und als Spiegel unserer Seele gilt – dem Gesicht. Neben dem sehr abwechslungsreichen Tätigkeitsfeld in der Klinik darf die ausgesprochen gute Möglichkeit zur Niederlassung in die Selbstständigkeit nicht unerwähnt bleiben, die für viele angehende Ärzte heute eine der Grundvoraussetzung bei der Facharztwahl ist.
Welche Kompetenzen, sowohl fachliche als auch Soft Skills sind in Ihrem Fachbereich besonders wichtig?
Wie jedes andere Fachgebiet in der Medizin auch, setzt die Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie ein gutes Maß an sozialer Kompetenz gegenüber seinen Patienten/innen aber auch Kollegen/innen voraus. Neben Empathie und Freundlichkeit, sollten Durchhaltevermögen und Ehrgeiz nicht vergessen werden, denn während so manche Operation schon mal die 8-Stunden-Marke knackt, gönnt einem im schlimmsten Fall so mancher Nachtdienst nur wenige Minuten Ruhe.
Wie steht es um den Nachwuchs und die Altersstruktur speziell in Ihrem Bereich? Haben Sie eine Vorstellung, wie der Bedarf in den kommenden Jahren aussehen wird?
Wie in den meisten Fachdisziplinen gilt der ärztliche Nachwuchs als kostbar. Die Zahl der Anwärter/innen auf Assistenzarztstellen ist im Vergleich zu anderen Disziplinen wie beispielsweise der Unfallchirurgie jedoch insgesamt auf weniger Kliniken verteilt. Bezüglich der Altersstruktur sind die meisten Abteilungen bunt durchmischt. Der Bedarf unterscheidet sich entsprechend der aktuellen Entwicklung mit einem Abwandern vieler ärztlicher Kollegen ins Ausland nicht sonderlich von anderen Fachdisziplinen. Aufgrund der Vielfältigkeit des Fachgebietes ist in den kommenden Jahren nicht damit zu rechnen, dass der Bedarf an Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgen/innen sinkt.
An welchen Kriterien kann ein junger Mediziner erkennen, ob eine Weiterbildungsstätte eine qualitativ hochwertige Ausbildung anbietet? Worauf sollte man bei der Wahl achten?
Ich würde allen Studierenden empfehlen, einen Teil des Praktischen Jahres (PJ) in einer der Kliniken zu leisten, die in ihrer engeren Wahl für die spätere Weiterbildung ist. Hierbei lernt man potenzielle Kollegen/innen, die Arbeitsbedingungen und das kollegiale Miteinander aus nächster Nähe kennen und verschafft sich somit einen außerordentlich guten Einblick in die Abteilungsstrukturen. Bewirbt man sich jedoch unabhängig vom PJ in einer Klinik, ist es mit Sicherheit von Vorteil eine ein- bis zweitägige Hospitation zu nutzen, die meist angeboten wird und dabei so viele Gespräche wie möglich mit den Mitarbeitern/innen vor Ort zu führen. Dabei würde ich mich ganz besonders nach vorgesehenen Weiterbildungskonzepten, ihren Inhalten und ihrer Umsetzung erkundigen.
Falls die Weiterbildung während des Zweitstudiums durchgeführt werden sollte, das für den Abschluss der Facharztweiterbildung notwendig ist, muss man mit dem potenziellen Arbeitgeber klären, wie Studienablauf und Weiterbildung miteinander in Einklang zu bringen sind. In meinen Augen sind wichtige Kriterien für die Wahl des Arbeitgebers die Weiterbildungskonzepte, Forschungsmöglichkeiten und Freistellung für Forschung (Stichwort „clinical scientist“), Zukunftsperspektiven und der Arbeitsvertrag als Weiterbildungsvertrag.
Es gibt ja noch weitere Spezialisierungen in Ihrem Bereich. Welche davon halten Sie für besonders interessant?
Für mich besonders reizvolle Bereiche in der Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie sind die rekonstruktive Chirurgie, die Kiefergelenkendoprothetik, die Behandlung von Kieferfehlstellungen (Dysgnathien) und die dentale Implantologie. Daneben steht den jungen Fachärzten/innen auch eine Vielzahl anerkannter Zusatzbezeichnungen zur Auswahl. So kann beispielsweise die Zusatzbezeichnung Plastische und Ästhetische Operationen oder die Medikamentöse Tumortherapien erworben werden. Außerdem kann man viele verschiedene Tätigkeitsschwerpunkte (zum Beispiel die Implantologie) wählen. In einigen Bundesländern kann man zusätzlich den Fachzahnarzt für Oralchirurgie erwerben.
In welchen Bereichen wird gerade geforscht und welche medizinischen Fortschritte gibt es in der Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie? Sehen Sie einen Nutzen durch den Einsatz von Künstlicher Intelligenz?Fortschritte auf unserem, für meine Begriffe sehr innovationsfreudigem, Fachgebiet gibt es unzählige. Diese stammen sowohl aus human- als auch aus den zahnmedizinischen Teilbereichen des Fachgebiets. Hierbei kommt der stetigen Entwicklung immer besserer Knochenersatz-, Implantat- und Prothesenmaterialien, sowie dem Einzug der Immuntherapie bei der Behandlung von Kopf-Hals-Tumoren ein großer Stellenwert zu. Daneben sind die digitale Operationsplanung und die stetigen Weiterentwicklungen in diesem Bereich nicht mehr aus der Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie wegzudenken. Moderne computergestützte Verfahren wie der 3D-Druck sind in nahezu allen Kliniken in den klinischen Alltag integriert. Dementsprechend beschäftigen sich auch viele Forschergruppen weltweit im Rahmen von in vitro und in vivo Versuchen sowie klinischen Studien mit allen diesen Themengebieten.
Weitere sehr interessante Bereiche erforschen Methoden zur Malignom-Früherkennung oder arbeiten an der Etablierung neuer und der Verbesserung bereits bestehender Operationsmethoden. Alle zielen auf eine verbesserte Patientenversorgung ab, sei es durch die längere Einsatzdauer von Implantaten und Prothesen, durch ein frühzeitigeres Erkennen von Krebserkrankungen oder durch verbesserte Überlebenschancen in der Rezidivsituation. Die Künstliche Intelligenz, oder besser das „machine learning“, hat bereits den Weg in unser Fachgebiet gefunden, sei es in Form automatisierter Prozesse zur Transplantatplanung oder der automatisierten Erkennung von Gewebeperfusionszuständen, und wird es ohne Zweifel in Zukunft vermehrt tun.
Ein wichtiges Kriterium für den Medizinernachwuchs ist auch die Work-Life-Balance und mögliche Teilzeitmodelle. Wie sehen Sie diese in Ihrem Bereich im Vergleich zu anderen Fachgebieten?
Dieses Thema spielt natürlich auch in unserem Fachgebiet eine Rolle, wobei ich die Bezeichnung als solche als unglücklich empfinde, da hier bereits eine Trennung zwischen „gut“ und „schlecht“ erfolgt, die in meinen Augen nicht gerechtfertigt ist. Ich denke, dass wir uns alle für einen Beruf entschieden haben, von dem wir bereits im Vorfeld wussten, dass er eine gewisse Flexibilität unserer täglichen Routine erfordert. So kann es sicherlich sein, dass die eine oder andere OP länger dauert als erwartet. Alles in allem ist jedoch die Vorstellung des völlig überarbeiteten Assistenzarztes, der die Klinik um 7 Uhr morgens betritt und abends um 21 Uhr verlässt, nicht der Normalzustand. Ich denke, dass sich die Medizin im Allgemeinen an die Wünsche und Forderungen nachfolgender Generationen anpassen muss. Teilzeitmodelle im Hinblick auf Vereinbarkeit von Familie und Beruf sind auch in unserer und anderen Kliniken gelebte Realität. Viele Kliniken bieten mittlerweile eigene Kindertagesstätten für ihre Angestellten an, die logistische Hürden der Kinderbetreuung deutlich entschärfen. Weiterhin ist zu erwähnen, dass ein großer Teil der Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgen/innen nach der Weiterbildung im ambulanten Sektor tätig ist und so die Arbeitszeiten je nach Beschäftigungskonzept vergleichsweise gut anpassen kann.
Gibt es die Möglichkeit sich selbstständig zu machen oder eine Praxis zu gründen oder zu übernehmen und was wären die größten Hürden dabei?
Wie bereits erwähnt, sind die Möglichkeiten der Selbstständigkeit und Niederlassung in eigener Praxis beziehungsweise einem vergleichbaren Modell im Allgemeinen sehr gut. Zu bedenken ist, dass die Neugründung einer Praxis in Großstädten aufgrund der höheren Konkurrenz schwieriger ist, als die Praxisübernahme in kleineren Städten. Nachteilig ist wie in jedem Fach jedoch sicherlich das eingeschränkte operative Spektrum außerhalb der Klinikstrukturen, welches sich in der Niederlassung häufig auf dentoalveoläre Eingriffe, die Implantologie und kleinere Eingriffe im Bereich der Gesichtshaut beschränkt. In diesem Zusammenhang gibt es natürlich die Möglichkeit des Belegarztwesens, das die Durchführung zwingend-stationärer Eingriffe ermöglicht.
Können Sie uns die momentane Situation Ihres Fachgebiets in Krankenhäusern bezüglich des Bedarfs, der Arbeitsbelastung und dergleichen schildern?
Der Bedarf an unserem Fachgebiet ist und bleibt insbesondere an Häusern der Maximalversorgung unverändert hoch, sowohl an universitären Einrichtungen als auch an nicht-universitären Kliniken. Denn obwohl die Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie sich in vielen Bereichen wie HNO und Neurochirurgie überschneidet, so hat sie aufgrund des notwendigen Doppelstudiums insbesondere in den Bereich der dentoalveolären- und der panfazialen Traumatologie eine wichtige Funktion und ist für klinische Traumazentren ein integraler Bestandteil. Zum Thema Arbeitsbelastung denke ich, dass die zunehmende Bürokratisierung und Dokumentationspflicht in jedem Fachgebiet einen großen Teil der Arbeitszeit junger, aber auch erfahrener Kollegen einnimmt und somit das Thema Zeitmanagement weiter an Bedeutung gewinnt. Gleichzeitig rücken hierdurch Anspruch und Anforderungen an gut durchdachte Weiterbildungskonzepte in den Vordergrund, was auch stetig von den Weiterbildungsassistenten/innen eingefordert werden muss.
Über welche Themen wird in Ihrem Fachgebiet gerade besonders diskutiert?
Wie auch in vielen anderen chirurgischen Disziplinen steht die Frage der Verbesserung der Lebensqualität unserer Patienten/innen oft im Zentrum kontroverser Diskussionen. Dabei geht es häufig um die Frage, wie viel Chirurgie man einer Person unter Berücksichtigung ihrer Lebenserwartung und der postoperativen Lebensqualität zu welchem Preis zumuten kann. Denn nur weil uns die moderne Anästhesie nahezu jede Operation ermöglicht, ist sie womöglich nicht immer die beste Wahl für die einzelnen Patienten/innen. So wäre bei einer alten, stark kardiopulmonal vorerkrankten Person die Frage der isolierten Resektion eines Plattenepithelkarzinoms im Bereich des Hartgaumens mit adjuvanter Bestrahlung und abschließender Prothesenversorgung, gegenüber der Tumorresektion mit beidseitiger Neck Dissection und primär-mikrovaskulärer Defektrekonstruktion plus adjuvanter Bestrahlung eingehend zu diskutieren. Hierbei müssen Punkte wie die Lebenserwartung des Patienten, Vorerkrankungen, OP-Dauer, Risiko der Halslymphknotenmetastasierung bei Plattenepithelkarzinomen des Oberkiefers, Lebensqualität mit Obturatorprothese, und viele weitere berücksichtigt werden, die gleichzeitig integraler Bestandteil der interdisziplinären Tumorboardkonferenzen und Grundlage für deren Empfehlung ist.
Welche gängigen Vorurteile gegenüber der Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie würden Sie gerne richtigstellen?
Hierzu möchte ich vor allem auf die Facharztausbildung und das notwendige Doppelstudium eingehen. Häufig höre ich, dass obwohl das Fach sehr interessant sei, vielen die Dauer der Ausbildung inklusive des zusätzlichen Studiums der Zahnmedizin zu lange dauert. Natürlich ist ein Mehraufwand notwendig, allerdings arbeiten die meisten Kollegen bereits parallel zum Zweitstudium in einer Klinik für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie auf einer 50 Prozent Stelle und sammeln somit schon Teile der fünfjährigen Facharztweiterbildung. Das Studium der Zahnmedizin kann nach absolviertem Medizinstudium an vielen Universitäten um ein Jahr verkürzt werden, sodass sich die benötigte Zeit für die Weiterbildung nicht substanziell von anderen chirurgischen Disziplinen unterscheidet. Für nähere Informationen empfehle ich die offizielle Homepage der Deutschen Gesellschaft für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie e.V. (DGMKG).
Ebenfalls häufig fehlinterpretiert wird die Qualifikation von Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgen/innen da sie mit einer Weiterbildung in der Zahnmedizin verwechselt und mit dem Fachzahnarzt für Oralchirurgie gleichgestellt wird – dabei handelt es sich um eine fachzahnärztliche Weiterbildung über die Dauer von drei Jahren nach Abschluss des Zahnmedizinstudiums. Wie auch mit vielen Teilbereichen der Humanmedizin existieren hier sicherlich fachliche Überschneidungen, ohne dass ein Gleichsetzten der Qualifikationen gerechtfertigt wäre.
Gibt es Nachwuchsförderungen oder Mentoring-Programme, die den Nachwuchs gezielt unterstützen?
Programme zur Nachwuchsförderung werden besonders durch die jeweiligen Universitätskliniken bereitgestellt, wobei viele Universitäten in diesem Zusammenhang Mentoring-Programme zur Karriereförderung insbesondere von Frauen anbieten. Nicht unerwähnt sollte hierbei Möglichkeiten zur wissenschaftlichen Nachwuchsförderung junger Assistenz- sowie Fachärzten/innen im Rahmen von „clinical scientist-Stellen“ sein, die in den letzten Jahren deutlich zugenommenen haben sowie die finanzielle Förderung von Forschungsprojekten durch Fachgesellschaften wie beispielsweise der Deutschen Gesellschaft für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde oder der Arbeitsgemeinschaft für Oral- und Kieferchirurgie.
Dr. med. Dr. med. dent. D.G.E. Thiem absolvierte sein Human- und Zahnmedizinstudium an der Universität Rostock. Seine human- medizinische Promotion schloss er im Jahr 2015 auf dem Gebiet der experimentellen Immunologie sowie seine zahnmedizinische Promotion im Jahr 2017 auf dem Gebiet der experimentellen Implantologie ab. Aktuell arbeitet er in der Klinik und Poliklinik für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie der Universitätsmedizin Mainz als Weiterbildungsassistent und wissenschaftlicher Mitarbeiter unter der Leitung von Herrn Prof. Dr. Dr. B. Al-Nawas und ist Mitglied des Jungen Forums der Deutschen Gesellschaft für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie.
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