Künstliche Intelligenz (KI) in der Gesundheitsbranche klingt für viele immer noch nach Science-Fiction. Nicht so für die Humanbiologin Patty Lee und den Mediziner Dr. Franz Pfister: Gemeinsam arbeiten sie in dem von ihnen gegründeten Start-up Orbit Health an einer KI-gestützten Technologie für die optimale Versorgung von Patient:innen mit Parkinson und anderen chronischen Erkrankungen. Ziel ist es, mithilfe von Smartwatch-Daten objektive, kontinuierliche Symptomeinblicke zu erhalten.
Durch seine Erfahrungen als praktizierender Mediziner, der primär auch Parkinson-Patient:innen behandelt hat, kennt Pfister die Bedingungen in der Gesundheitsversorgung und ihre Herausforderungen. „Parkinson ist eine komplexe Erkrankung und jede:r Patient:in spricht anders auf die gegebenen Medikamente an. Für eine optimale Therapie sind die Informationen aus den vierteljährlichen Arztbesuchen oft unzureichend, da diese meist subjektiv sind und oft auf unzuverlässigen Anamnesen beruhen“, erklärt der jetzige Healthcare-KI-Spezialist die Beweggründe für die Idee hinter der KI-basierten Lösung von Orbit Health.
Lee hingegen ist bei der Entwicklung vor allem für die Kommerzialisierung und die Einhaltung der regulatorischen Voraussetzungen in verschiedenen Gesundheitssystemen zuständig. Die studierte Humanbiologin bringt 15 Jahre Berufserfahrung in der nationalen und internationalen Gesundheitsindustrie mit, sowohl in der Pharmazeutik als auch in der Diagnostik. Nun profitiert Orbit Health von ihren Einblicken in die verschiedenen Gesundheitssysteme der einzelnen Länder sowie von ihren Erfahrungen mit Gesundheitsdienstleistern und Herstellern. „Unsere Mission ist es, möglichst viele Patient:innen zu unterstützen und ihnen durch digitale Technologien einen besseren Zugang zu einer hochwertigen Gesundheitsversorgung zu ermöglichen“, so Lee.
Kontinuierliche und objektive Symptomüberwachung
Die digitale Lösung von Orbit Health setzt auf die Schnittmenge von Gesundheitsversorgung, Technologie und KI. „Neptune ist eine KI-gestützte Lösung, die passiv erfasste, rohe Bewegungsdaten von einer Smartwatch in objektive, kontinuierliche Symptomeinblicke umwandelt“, erklärt Lee.
Bei der Ausgabe der Symptominformationen setzt Neptune auf eine sogenannte Deep-Learning-Technologie: Alle Parkinson-relevanten motorischen Symptomtrends und Übergänge zwischen motorischen Zuständen werden innerhalb eines sehr präzisen Zeitfensters gemessen – mit einer Genauigkeit von bis zu einer Minute und unabhängig von den Aktivitäten der Patient:innen im Alltag. Darüber hinaus erlaubt die Infrastruktur von Neptune auch das Erfassen und die Orchestrierung von digitalen Biomarkern, nicht-motorischen Symptomen und Therapeutika mithilfe einer begleitenden App mit Arztschnittstelle. Auf diese Weise können individuelle Komorbiditäten, beispielsweise Depressionen, Ängste oder Sprachschwierigkeiten bei der Behandlung berücksichtigt werden. Eine kontinuierliche Überwachung des Dopaminspiegels ermöglicht zudem den Ärzt:innen erstmals, genau zu sehen, wie der/die Patient:in auf die einzelnen eingenommenen Medikamente reagiert. Dadurch können sie die Medikamentenkombination, die Dosierung und den Zeitpunkt so anpassen, dass die Patient:innen die beste Symptomkontrolle erreichen. Die Arztschnittstelle besteht aus einem Patientenverwaltungssystem und einem Dashboard, das alle relevanten Patienteninformationen und Symptomeinblicke in einer Ansicht zusammenfasst und Ärzt:innen so einen bedarfsgerechten Zugriff ermöglicht.
Grundsätzliche Herausforderungen digitaler Healthcare-Technologien
2016 begann die Forschung an der innovativen Technologie hinter Neptune. Dabei war auch das Schaffen eines Anreizes für die Nutzung einer solchen digitalen Gesundheitslösung eine Herausforderung. „Bislang erstatten Kostenträger auf der ganzen Welt, von Versicherungsgesellschaften bis zu Regierungen, eher reaktive Behandlungen, also zum Beispiel Krankenhausaufenthalte und durchgeführte Eingriffe. Vorbeugende Maßnahmen müssen ihren Wert umfassender belegen“, so Lee. Die Einrichtung des Verzeichnisses für digitale Gesundheitsanwendungen durch das BfArM sieht sie als Schlüssel zu einer notwendigen Veränderung: Es erkenne Digital Health Anwendungen als medizinische Tools und ihre potenziell tragende Rolle bei der Optimierung der Gesundheitsversorgung an. Außerdem ermögliche es die Integration neuer Technologien in die klinische Routine. „Dieser erste Schritt hat das Potenzial, ein neues System zur Bemessung von Werten in der Gesundheitsversorgung einzuführen.“
Das Potenzial der KI-Lösung von Orbit Health wurde bereits mehrfach bestätigt
Mittlerweile kann Orbit Health mit Stolz auf sieben klinische Studien, 20.000 Minuten klinische Daten und 300 Patient:innen zurückblicken, die geholfen haben, die klinische Relevanz der Softwarelösung und ihr Potenzial zur Minimierung motorischer Symptome zu bestätigen. Dabei wurde die KI-Lösung Neptune sowohl hinsichtlich ihrer klinischen Relevanz als auch im Hinblick auf ihre Zuverlässigkeit bei der Vorhersage von Krankheitsentwicklungen bei Patient:innen überprüft. Die Ergebnisse wurden bislang in 20 internationalen Publikationen veröffentlicht, unter anderem in der wissenschaftlichen Fachzeitschrift Nature Scientific Reports.
Beim EIT Health Wild-Card-Innovationsprogramm erhielt Orbit Health ein umfassendes Training und Mentoring zum Erstellen eines Geschäftsplans. Schließlich ging das Team im finalen Pitch als einer der beiden Sieger hervor – ein weiterer Beleg für die Stärke der Orbit Health Lösung, des Geschäftsmodells und des Teams. „Parkinson ist mit etwa 400.000 Betroffenen allein in Deutschland die zweithäufigste neurodegenerative Erkrankung – und nach wie vor nicht ursächlich heilbar. In Krankheitsfällen geht es meist in erster Linie darum, die Lebensqualität der Patient:innen zu verbessern und die Möglichkeit einer verbesserten Symptomkontrolle gehört ganz klar dazu“, erläutert Dr. Katharina Ladewig, Geschäftsführerin von EIT Health Germany, die Entscheidung der weiteren Unterstützung von Orbit Health. Sie ist sich sicher, dass zukünftig Digital Health bei der Prävention, Diagnose und Behandlung chronischer Erkrankungen in der ambulanten und häuslichen Pflege eine wichtige Rolle spielen werden. „Natürlich sind für den Erfolg dieses Modells Veränderungen in der Gesundheitsversorgung und der Art und Weise, wie Ergebnisse erfasst und Kosten bemessen werden, unverzichtbar – doch um die Notwendigkeit aufzuzeigen, müssen wir demonstrieren, wie viel Potenzial Digital Health hat“, so Ladewig weiter. Der Sieg beim Wild-Card-Programm ist mit einer finanziellen Förderung über 1,5 Mio. Euro verbunden. Damit soll die Markteinführung der KI-basierten Technologie beschleunigt werden, sodass sie zeitnah Millionen von Patient:innen weltweit zur Verfügung gestellt werden kann. „Wir freuen uns sehr auf die Zusammenarbeit mit EIT Health – so können wir eine starke Basis für Orbit Health schaffen und daran arbeiten, möglichst viele Lösungen auf den Markt zu bringen, die Patient:innen mit chronischen Krankheiten helfen und ihre Lebensqualität verbessern“, erklärt Pfister.
Patty Lee, CEO und Mitgründerin von Orbit Health, verfügt über mehr als 15 Jahre Erfahrung in der Pharma- und Diagnostikindustrie. Bevor sie Unternehmerin wurde, war Lee eine globale Führungskraft bei Roche Diagnostics in Basel, Schweiz. Sie schloss ihr Studium an der University of Toronto mit einem Honours Bachelor of Science ab und erwarb einen MBA an der York University in Toronto, Kanada. Lee hat in Nordamerika, Europa und Asien gearbeitet und Teams geleitet. In den letzten 5 Jahren hat sie freiberuflich mit verschiedenen Tech-Start-ups im IoT- und Blockchain-Bereich gearbeitet. Mit ihrem beruflichen Hintergrund in der Healthcare-Branche und ihrer Leidenschaft für Technologie hat sie optimale Voraussetzungen, neue technische Entwicklungen in der medizinischen Praxis zu implementieren.
Franz MJ Pfister, Mitgründer von Orbit Health, ist Unternehmer, Mediziner und Data Scientist. Er gilt als führender Experte an der Schnittstelle von Gesundheitsversorgung, Technologie und KI. Seine akademische Laufbahn umfasst ein Medizinstudium an der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) München und der Harvard Medical School mit einem Doktor im Bereich der Neurowissenschaften. Er hält einen MBA von der Munich Business School und einen Master in Data Science von der LMU München. Pfister leitet derzeit mehrere Initiativen und baut Unternehmen im Bereich Health AI auf, die diagnostische Lösungen der nächsten Generation entwickeln, um die Patientenversorgung zu verbessern und eine personalisierte Medizin zu ermöglichen.
Weitere Digitale Pioniere finden Sie hier.
Mehr Beiträge zur Digitalisierung in der Medizin gibt es hier.