Für ältere Menschen ist die gewohnte Motorik wie gehen, aufstehen und umdrehen für eine selbstständige Mobilität elementar. Ist diese nicht mehr vollumfänglich vorhanden, ist das Risiko eines Sturzes erhöht. Um schon im Vorhinein abzuwägen, welche Personen eine Gang- oder auch Mobilitätsstörung haben und, um die Gefahr eines Sturzes einzudämmen, hat das Start-up Lindera eine KI-basierte 3D-Bewegungsanalyse entwickelt. Der Clou daran: Die Künstliche Intelligenz kann durch Smartphones und Tablets verwendet werden. Wie das in der Praxis aussieht, wem durch die Technologie alles geholfen wird und was die Zukunft bereithält, verrät Regzena Erdyneeva im Interview.
Was genau steckt hinter Lindera?
Kurz zusammengefasst: Wir haben an dem Problem der Stürze im Alter angesetzt und sind bei einer bahnbrechenden Technologie gelandet.
Die Langfassung: Etwa jeder dritte Mensch über 65 Jahre stürzt mindestens einmal im Jahr. Bei den über 80-Jährigen liegt die Quote sogar bei 50 Prozent. Sturzfolgen sind oft unumkehrbar und können in schwerwiegenden Fällen zu einer zunehmenden Pflegebedürftigkeit beitragen.
Mit diesem Wissen haben wir eine KI-basierte 3D-Bewegungsanalyse entwickelt, mit der sich das Sturzrisiko von Senior:innen strukturiert und erfolgreich reduzieren lässt. Die Lindera-Mobilitätsanalyse ermittelt das individuelle Sturzrisiko einfach und präzise per App auf dem Smartphone oder Tablet. Das Verfahren beruht auf dem Expertenstandard Sturzprophylaxe. Die 3D-Bewegung des Gangbilds wird mit Hilfe von Künstlicher Intelligenz ausgewertet. Über eine Videoaufnahme vom Gang und einen Fragebogen ermitteln unsere patentierten Algorithmen das individuelle Sturzrisiko auf einer Skala von 0 bis 100 – dabei sind Hilfsmittel wie Rollator oder Gehstock bei der Analyse erlaubt. Die Lindera Mobilitätsanalyse ist ein Medizinprodukt Klasse I. Die App lässt sich mühelos an die führenden Dokumentationssysteme anbinden. Unser erstes Produkt wird bereits in 500 Pflegeeinrichtungen eingesetzt.
Wie weit seid ihr mit der Entwicklung?
Die Lindera-App für die Pflege wird seit 2019 eingesetzt. Unsere Technologie, das SDK (Software Development Kit), ist unter anderem in der App “Skill Yoga” integriert und macht ein personalisiertes Echtzeit-Training möglich. Das SDK ist im Grunde der Kern unseres 3D-Motion-Trackings. Verschiedene App-Anbieter können die Technologie in ihre mobilen Anwendungen integrieren. Dank des Algorithmus können sie ihren Nutzer:innen ein personalisiertes Training mit Feedback in Echtzeit bieten – ganz ohne Wearables, Multikamerasystem und Tiefensensorik.
Und wie sieht es mit Herausforderungen seit der Gründung aus?
Zu Anfang haben unterschiedliche Forschungsinstitutionen unserer CEO Diana Heinrichs versichert, dass es unmöglich sei, das menschliche Gangbild ohne Sensorik nur mithilfe einer einfachen Smartphone- oder Tabletkamera zu erfassen. Dies haben wir widerlegt. Mittlerweile ist unsere KI-basierte Mobilitätsanalyse patentiert. Auch gibt es verschiedene Evidenzen aus wissenschaftlichen Studien,die die Effektivität unserer Methode nachweisen.
Eine weitere große Hürde kam 2020 auf uns zu. Corona hat die Pflegebranche sehr stark getroffen. Das Pflegepersonal war konfrontiert mit schwerwiegenden und leider sehr häufig tödlichen Krankheitsverläufen unter den Bewohner:innen. Auch beim Personal war der Krankenstand hoch und belastete die generell schon marginal besetzte Pflegebranche zusätzlich.
Mit Einsatz der Impfungen hat sich die Situation verändert. Senior:innen waren zwar geschützt und dennoch mussten sie isoliert bleiben, konnten lange Zeit keinen Besuch von Angehörigen empfangen oder Gruppeninteraktionen ausüben. Die fehlende Aktivität wirkte sich nachteilhaft auf das Wohlbefinden und die Mobilität aus. Sturzprävention und Mobilitätsförderung mit Lindera war daher besonders wichtig. Unser Customer Success Team hat auch während der Pandemie Onlineschulungen für das Pflegepersonal durchgeführt und die Pflegekräfte intensiv bei der Nutzung von Lindera unterstützt.
Auch wenn Pflegekräfte mit der Einhaltung strenger Test- und Besuchsregelungen überdurchschnittlich belastet waren, haben sie die Relevanz der Mobilitätsförderung bei ihren Senior:innen ernst genommen und mit sind mit Lindera effektiv gegen den Mobilitätsverlust vorgegangen.
Wie hilft Ihre Innovation den einzelnen Individuen im Gesundheitssystem?
Für Senior:innen bildet die Lindera Mobilitätsanalyse eine Grundlage für eine individuelle sowie qualitativ hochwertige Sturzprävention. Lindera ermittelt umfassende Sturzrisikofaktoren sehr präzise und visualisiert Veränderungen in den Sturzrisikofaktoren, wie beispielsweise dem Gangbild, der Medikation und psychischen Verfassung. Pflegebedürftige schätzen es sehr, während der Mobilitätsanalyse Zeit mit den Pflegekräften zu verbringen, freuen sich über die zahlreichen Vorschläge für Aktivitäten zur Unterstützung ihrer Mobilität und treten der modernen Technologie mit großem Interesse entgegen. Dieser positive Trend zeichnet sich auch in den Studienergebnissen zu Lindera ab: gemessen wurde eine Sturzrisikoreduktion sowie Reduktion der Sturzangst und Rückgang der psychologischen Belastung.
Pflegekräfte profitieren vor allem von der Zeitersparnis, denn Lindera ermöglicht eine präzise Ganganalyse innerhalb von kürzester Zeit. Außerdem deckt unsere Anwendung alle Faktoren des Expertenstandards Sturzprophylaxe ab und kann mit dem Pflegedokumentationssystem verknüpft werden, was die Arbeit der Pflegekräfte erleichtert. Pflegekräfte erhalten mit Lindera außerdem eine neue Perspektive auf die Möglichkeiten der Sturzprophylaxe, denn die Analyseergebnisse von Lindera sind sehr ausführlich.
Digitalisierung ist ein Magnet für junge Menschen. Da wir der Pflege dabei helfen wollen, die junge Generation für den Pflegeberuf zu motivieren, haben wir eine kostenlose Unterrichtseinheit zum Thema digitale Anwendungen und moderne Technologien für Pflegeschulen entwickelt.
Sie bezeichnen Ihr Produkt „Lindera KlinikApp“ selber als Schweizertaschenmesser. Welche Features stecken denn alles in der Innovation?
Unsere unikale patentierte Technologie, die es erlaubt, menschliche Bewegungen auf dem Niveau des Goldstandards zu messen, bringt viel Veränderungspotenzial in das Gesundheitswesen.
Einerseits geht es um die Messpräzision, andererseits aber auch um die Veränderung von Routineabläufen und Arbeitsprozessen.
Unsere Technologie kann aber auch in folgenden Bereichen außerhalb der Pflege angewendet werden: dem strukturierten Entlassmanagement, in der Nachsorge bei motorischen Krankheiten wie Parkinson und MS, in der Physiotherapie und Reha sowie im Yoga- und Fitnessbereich.
Welche Finanzierungsmöglichkeiten gibt es für eure Kunden?
Für die Stationäre Pflege gibt es die Möglichkeit einer Anschubfinanzierung durch Krankenkassen – nach einer Regelung im SGB V. Einige unserer Kunden haben Lindera im Pflegesatz verankert. Andere sind als Selbstzahler aktiv – und es lohnt sich, dann mit einer effektiven Sturzprävention sparen die Pflegeeinrichtungen bei Krankenhauseinweisungen und Bettenleerstand.
Für die ambulante Pflege gibt es die DiPA – Digitale Pflegeanwendungen können durch die Pflegekasse erstattet werden. Mit Lindera sind wir gerade im Antragsprozess und bereiten uns darauf vor, als erste Digitale Pflegeanwendung erstattungsfähig zu werden.
Zum Schluss ein kleiner Ausblick: Wie soll es mit Ihrem Produkt und Ihrer Innovation in den nächsten Jahren weitergehen?
Wir arbeiten aktuell an der Weiterentwicklung unserer Technologie für den klinischen Bereich. Lindera soll bei der Nachsorge sowie Früherkennung bestimmter neurologischer Krankheiten unterstützen, die sich in der Mobilität äußern – beispielsweise Parkinson und Multiple Sklerose. Unsere Technologie kann darüber hinaus auch im Entlassmanagement Arbeitsprozesse strukturieren, sie dadurch erleichtern und die Outcomes messbar machen.
Mit unserer Messpräzision wollen wir weltweite Standards setzen und zu einer Demokratisierung der Präzisionsmedizin beitragen. Deshalb gehen wir in Deutschland mit gutem Beispiel voran, um die Potenziale der KI-basierten Assistenzsysteme im Gesundheitssystem zu verankern und für Endanwender:innen spürbare Vorteile zu erzielen.
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