Die Corona-Krise wirkt für alle Branchen wie ein Brennglas, unter dem teilweise schon lange schwelende Probleme noch sichtbarer werden. Der Veränderungsdruck auf das Gesundheitswesen nimmt ebenfalls zu. Die Medizinethikerin Prof. Dr. phil. Claudia Bozzaro vermittelt uns ihre Sicht auf ökonomische Restriktionen, die Digitalisierung der Medizin und auf die gesellschaftlichen Veränderungen durch die Corona-Pandemie.
Die Ökonomisierung der Medizin schreitet immer weiter voran. Viele Ärzt:innen beklagen, das sie sich unter Druck gesetzt fühlen und der/die Patient:in als Teil einer Wertschöpfungskette angesehen wird. In welcher Situation befinden wir uns gerade?
Ich nehme wahr, dass die Thematik viele Mitarbeiter:innen im Gesundheitswesen beschäftigt. Grundsätzlich ist in meinen Augen die Ökonomie ein selbstverständlicher Teil der Gesundheitsversorgung. Ein effektiver und gerechter Umgang mit begrenzten Ressourcen ist durchaus auch in ethischer Perspektive geboten. Momentan erleben wir eine starke Zunahme der Gesundheitskosten und es bedarf, meiner Ansicht nach, einer breiteren und vor allem transparenteren gesellschaftlichen Diskussion darüber, wie begrenzte Ressourcen im Gesundheitswesen fair verteilt werden sollen. Was natürlich problematisch wäre, ist, wenn unter Ökonomie nur noch Gewinnmaximierung verstanden würde, die auf Kosten einer guten Behandlung von Patient:innen erzielt werden soll. Das würde die intrinsische Motivation vieler Mitarbeiter:innen eliminieren, was sicherlich schlimme Folgen mit sich zieht.
Medizinökonom:innen argumentieren, dass eine Erhöhung der Effizienz den Patienten zu Gute kommt. Werden Patient:innen von Ärzt:innen auch als Schutzschild für ein tradiertes Gesundheitswesen genutzt, um den für den einzelnen manchmal vorteilhaften Status Quo zu bewahren?
Ich kann dazu keine allgemeine Antwort geben. Die Bildung von Schwerpunktzentren kann durchaus die Effektivität steigern, auch zu Gunsten einer besseren Behandlung für die Patient:innen. Das darf aber natürlich nicht dazu führen, dass einige Regionen dadurch von einer guten Gesundheitsversorgung abgeschnitten werden.
Welchen Einfluss auf die Medizin wird die Digitalisierung haben und wie sollten sich junge Ärzt:innen darauf vorbereiten?
Ich glaube, dass die Digitalisierung große Potenziale und zugleich auch einige Gefahren mit sich bringt. Es kann sehr hilfreich und in einigen Bereichen sehr sinnvoll sein, zum Beispiel zunächst eine telematische Sprechstunde in Anspruch nehmen zu können. Als Mutter von zwei kleinen Kindern empfinde ich es beispielsweise als eine enorme Entlastung, wenn man nicht mit einem fiebernden Kind in die Kinderarztpraxis laufen müsste, um ein entsprechendes Attest zu bekommen. Aber es muss sehr genau hingeschaut werden, wo Telematik den direkten zwischenmenschlichen Kontakt ergänzen kann und wo nicht. Zudem muss auch darauf achtgegeben werden, dass wir durch die Digitalisierung nicht neue Formen von „digitaler Vulnerabilität“ – dieser Begriff stammt von Prof. Dr. Stefan Selke – schaffen, zum Beispiel dadurch, dass Menschen ohne Zugang zu digitalen Medien gesundheitliche Nachteile haben.
Junge Mediziner:innen berichten uns, dass die Führungskultur in Krankenhäusern noch sehr klassisch ist. Warum ist das so?
Das ist tatsächlich so und das sollte sich schleunigst ändern, denn sonst verlieren wir in den kommenden Jahren immer mehr gut ausgebildete Ärzt:innen. Das hat vermutlich noch mit der paternalistischen Ausrichtung der Medizin zu tun und mit gewachsenen Machtstrukturen.
Glauben Sie, dass sich durch Corona die Wahrnehmung und Wertschätzung gegenüber dem Gesundheitswesen deutlich verändern wird?
Wenn ich ehrlich bin: nein. Schon jetzt, in der zweiten Welle, in der sich der erste Schock gelegt hat und viele Menschen die Restriktionen satt sind, zeigt sich, dass der Applaus für die „systemrelevanten“ Berufe deutlich leiser geworden ist. Vor allem in Bezug auf die Pflegekräfte finde ich es höchst problematisch, wie wenig wir gesellschaftlich bereit sind, der harten Arbeit, die diese Menschen tagtäglich erbringen, angemessene Wertschätzung entgegen zu bringen. Es bedarf hier einer ganz grundlegenden Umgestaltung, angefangen bei der Pflegeausbildung.
Welche Folgen wird die Corona-Erfahrung generell für die Gesellschaft haben?
Corona wird auf vielen Ebenen Folgen haben. Zunächst werden wir mit gravierenden wirtschaftlichen Einbußen zu kämpfen haben, die bestehende soziale Probleme verschärfen werden. Ob wir diese Krise nutzen werden, um auf diese negativen Folgen konstruktiv zu antworten und somit, auf längere Sicht gedacht, vielleicht dann auch positive Entwicklungen zu befördern, muss man abwarten. Ich denke bezüglich der Fragen nach einem bewussteren Umgang mit der Natur, hinsichtlich der Klimakrise und auch bezüglich einer Neuausrichtung der Arbeitswelt (Stichwort Flexibilisierung und Work-Life-Balance) könnten aus der Krise sicherlich auch Chancen erwachsen.
Viele unserer Leser:innen stehen noch relativ am Anfang ihrer Medizinerkarriere und haben etwa die Entscheidung über die für sie passende Weiterbildung zu treffen. Müssten die Ethiker nicht raten, die Weiterbildung zu wählen, in der der Bedarf am größten ist?
Ich würde immer noch dazu raten, das zu machen, was einem am meisten interessiert, wofür man wirklich brennt. Dann finden sich oft auch Lösungen für Schwierigkeiten, die in der Regel dazugehören. Aber aus Kalkül ein Fach zu wählen, was einen nicht wirklich interessiert, finde ich nicht sinnvoll.
Welche der medizinethischen Fragen wird uns in den kommenden Jahren Ihrer Meinung nach besonders beschäftigen?
Es werden voraussichtlich sehr viele Themen sein: von den klassischen medizinethischen Fragen rund um das Thema Sterbebegleitung über die aktuell im Fokus stehenden Fragen rund um die Public Health-Ethik wie beispielsweise die Frage nach der Priorisierung knapper Güter bis hin zu grundlegenden Fragen der Ausrichtung der Medizin in einem digitalen Zeitalter.
Prof. Dr. phil. Claudia Bozzaro ist Medizinethikerin und Philosophin. Sie hat Philosophie und Kunstgeschichte in Freiburg und Paris studiert. Nach der Promotion im Fachbereich Philosophie war sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Ethik und Geschichte der an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg tätig. Nach der Habilitation an der medizinischen Fakultät in Freiburg hat sie im Oktober 2020 die Professur für Medizinethik an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel übernommen.
Weitere Erfahrungsberichte finden Sie unter: arztundkarriere.com/erfahrungen-und-essays