„Als Facharzt für Allgemeinmedizin gehört diagnostische Unsicherheit zu meinem täglichen Geschäft. Ich habe gelernt, wie ich damit umgehen und sie reduzieren kann. In meiner Arbeit mit jungen Ärzt:innen in Weiterbildung fällt mir jedoch auf, dass diese sich damit sehr schwertun. Das liegt zum einen an einer geringeren klinischen Erfahrung, jedoch auch daran, dass im Medizinstudium häufig lineare Beziehungen wie „erhöhtes Troponin bedeutet Herzinfarkt” hergestellt werden. Vielleicht auch in der Hoffnung, die Komplexität der Realität zu vereinfachen.
In der Realität sind jedoch diagnostische Tests nicht allein von deren Güte (Sensitivität und Spezifität) abhängig, sondern viel maßgeblicher von der Vortestwahrscheinlichkeit (Prävalenz). In der Mathematik wird dieser Zusammenhang durch das Theorem von Bayes beschrieben. Was bedeutet das nun für die ärztliche Tätigkeit? Für viele junge Ärzt:innen ist es schwer vorstellbar, dass derselbe positive Troponin-Schnelltest in der Hausarztpraxis mit einer (deutlich) geringeren Wahrscheinlichkeit für einen Herzinfarkt verbunden ist als in einer Chest-Pain-Unit.
Damit verbunden ist ein verschiedener Umgang in der Bewertung der Aussagekraft von Tests. Als Ärzt:in muss ich also – je nachdem an welcher Stelle des Gesundheitswesens ich arbeite – anders vorgehen. Im primärärztlichen Bereich, wo Patient:innen mit dem Gesundheitswesen in den ersten Kontakt treten, besteht systemimmanent eine deutlich geringere Vortestwahrscheinlichkeit als in Versorgungsebenen der Sekundär- oder Tertiärmedizin.
Es ist schön zu sehen, dass wir in der Weiterbildung junge Ärzt:innen diese Zusammenhänge aufzeigen und ihnen starke Werkzeuge (wie die Stufendiagnostik oder das Konzept der „red flags“) an die Hand geben können, mit der diagnostischen Unsicherheit umzugehen.
Als positiver Nebeneffekt ergibt sich noch etwas, was schon im Medizinstudium stärker repräsentiert werden sollte: Wenn ich die Bedeutung der Vortestwahrscheinlichkeit für die Diagnostik und Versorgung von Patient:innen verstanden habe, wird auch deutlich, warum wir in Deutschland die primärärztliche Selektion von Patient:innen und deren Steuerung benötigen. Denn nur so können die verschiedenen sektorenübergreifenden Versorgungsebenen effektiv arbeiten. Mit diesem Verständnis würde vielleicht in Zukunft auch der Austausch zwischen den Versorgungsebenen kollegialer sein.“
Univ-Prof. Dr. med. Marco Roos ist Direktor des Instituts für Allgemeinmedizin am Universitätsklinikum Augsburg. Er leitet zudem das Kompetenzzentrum Weiterbildung Allgemeinmedizin Bayern (KWAB) und ist Sprecher der Sektion Weiterbildung in der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM).