Welches spezielle Wissen brauchen Mediziner:innen, um im Digitalzeitalter zu praktizieren? Dr. Anne Sophie Geier, Geschäftsführerin des „Spitzenverbands Digitale Gesundheitsversorgung“, erläutert, wie die digitale Revolution das Gesundheitssystem verändern wird, welche Hürden noch genommen werden müssen und warum ein Grundlagenverständnis für KI zukünftig immer wichtiger werden wird.
Im Handelsblatt Journal „HEALTH“ haben Sie die Schritte erklärt, die durchlaufen werden müssen, damit digitale Innovationen flächendeckend angenommen werden. Von einer kleinen Gruppe innovationsbegeisterter Nutzer weitet sich die Annahme der neuen digitalen Anwendungen allmählich auf die ganze Gesellschaft aus. Wie ist der aktuelle Status quo im Health-Bereich?
Die sogenannten „inovation curve“ beschreibt die Stadien, die durchlaufen werden, um eine neue digitale Anwendung zu etablieren. Beginnend mit wenigen Usern weitet sich die Benutzung zunächst auf die „early majority“, im Anschluss auf die „late majority“ aus. Bezüglich der ePA befinden wir uns gerade an der Schwelle zum Anstieg der Kurve, allerdings fehlen noch einige Bausteine, damit sich ein neues digitales Ökosys-tem der Gesundheitsversorgung etablieren kann. Was entscheidend dabei ist: Digitale Lösungen und der Zugang zu ihnen muss einfach nutzbar sein, damit sie im Alltag selbstverständlich im Einklang sind.
Sie haben bereits das neue digitale Ökosystem angesprochen. Dieses geht weit über den Austausch von analogen in digitale Anwendungen hinaus. Können Sie das etwas präzisieren?
Dreh- und Angelpunkt dieses neuen Ökosystems wird die ePA sein. Aber auch digitale Anwendungen wie das eRezept, telemedizinische Behandlungen, wie beispielsweise das Telemonitoring, sowie digitale Therapieansätze wie die DiGA, sind wichtige neue Bausteine des Ökosystems. Entscheidend ist, dass die verschiedenen Bestandteile alle miteinander kompatibel sind und Daten austauschen können. Und auch, dass die Anwendungen die Patient:innen über einen langen Zeitraum und über die verschiedenen Stadien des Therapieverlaufs begleiten. Derzeit gehen wir davon aus, dass das digitale Ökosystem in den kommenden zwei bis drei Jahren seine volle Wirkung entfalten kann.
Auf welchen Veränderungen im Arbeitsalltag können sich Mediziner:innen einstellen?
Zunächst wird ein Arztbesuch in Zukunft auch verstärkt telemedizinisch ablaufen, Patienten werden über Telemonitoring oder digitale Therapien begleitet. Eine Neuerung wird ebenfalls sein, wie der Arztbesuch vor Ort abläuft: Medi-ziner:innen werden bereits vor dem Besuch wichtige Daten vorliegen haben, die diagnostisch bereits abgefragt oder gemessen wurden. Beispielsweise können manche Laborproben von den Patient:innen vorab selbst abgenommen und verschickt werden. Die Diagnostik, die bereits vor dem tatsächlichen Arztbesuch stattfindet, führt zu einer viel differenzierteren Datenlage, auf deren Basis die Mediziner:innen Entscheidungen treffen können. An dieser Stelle kommen auf die Ärzte neue Herausforderungen zu. Es muss festgelegt werden, welche Daten für eine Therapieempfehlung hilfreich sein können und wie diese aufbereitet sein sollen. Die Kunst wird darin liegen die richtigen Daten zum richtigen Zeitpunkt gut verständlich verfügbar zu haben. An dieser Stelle besteht noch Gestaltungsspielraum, der gefüllt werden muss.
Sind die digitalen Kenntnisse, welche man im Studium und in der fachärztlichen Weiterbildung diesbezüglich vermittelt werden, ausreichend?
Die Notwendigkeit, dass solches Wissen in die Ausbildung einbezogen wird, sehe ich in jedem Fall. Hierunter können zum Beispiel ein gewisses Grundlagenverständnis der Arbeitsweise von KI bis hin zum komprimierten Erfassen von Datenparametern und der Kommunikation über diese gehören. Ein zusätzliches Wissen zur Interoperabilität und Prozessen ist ebenfalls von Vorteil. Damit meine ich ein Verständnis über die Schnittstellen und Kommunikationsformen von digitalen Anwendungen untereinander.
Für den telemedizinischen Bereich kann man zum Beispiel sagen, dass es in Zukunft wahrscheinlich mehr Leitfäden geben wird, die auch ganz banale Dinge beinhalten, die im analogen keine Rolle spielen. Zum Beispiel die Frage: Sind Sie allein im Raum?
Neben den Patient:innen ist es auch entscheidend, dass Ärzt:innen den digitalen Anwendungen vertrauen. Wie werden die neuen Anwendungen getestet?
Wir haben in unserem Verband viele Hersteller, welche die Prüfung der BfArM durchlaufen haben. Hierzu gehören unter anderem evidenz-, qualitäts- und datenschutzrechtliche Vorgaben. Für Ärzte ist es übrigens möglich, bei Interesse limitierte Testzugänge zu den DiGAs zu bekommen. Diese kann man bei Herstellern erfragen.
Wie können Mediziner:innen das Vertrauen der Patient:innen, das durch persönliche Interaktion aufgebaut wird, aufrechterhalten?
Mediziner:innen fungieren bereits jetzt als sehr kompetente Berater:innen, die durch ihren Erfahrungsschatz und der professionellen Auswertung der Datenlage die besten Entscheidungen treffen können. Das wird sich auch in Zukunft nicht ändern. Lediglich die Menge an relevanten Daten wird zunehmen, für den Arzt genauso wie für die Patientient:innen. So können die Mediziner:innen auf eine ganze Krankheitsgeschichte zurückblicken. Damit wächst das Hintergrundwissen und Empfehlungen können noch spezifischer getroffen werden – auch im Hinblick auf stärker personalisierte Therapieoptionen. Der Arzt muss deshalb die zunehmende Datenmenge und die Erkenntnisgewinne klug interpretieren und anwenden können.
Welche versorgungsspezifischen Lücken können durch DiGA gedeckt werden?
DiGA sind in vielen unterschiedlichen Bereichen zugelassen. Wir sehen aktuell die meisten DiGA in der Psychotherapie, da hier die Versorgungslücke in Deutschland besonders gravierend ist. Ein nicht zu unterschätzender Vorteil ist auch die Unabhängigkeit von Zeit und Raum. So können etwa Menschen auch unabhängig von ihren Arbeitszeiten einfacher eine Therapie in Anspruch nehmen.
Ein wichtiger Aspekt, der oft vergessen wird, sind die Anfahrts- und Wartezeiten, die dadurch entfallen. Ein weiterer Pluspunkt ist, dass man das Wissen aus Leitlinien an Patient:innen weitergeben und jederzeit abrufbar machen kann. Oft bleibt im Behandlungszimmer nicht genug Zeit für detaillierte Erklärungen oder man vergisst die Einzelheiten nach dem Besuch schnell. So können qualitative Informationen an die Betroffenen weitergegeben und auch jederzeit abrufbar gemacht werden. Ein Beispiel wäre hier die Ernährungstherapie bei Krebserkrankten. Evidenzbasiertes Leitlinien gerichtetes Wissen kann so in den Alltag integriert werden. Letztendlich führt dies in manchen Anwendungskontexten zu einer Demokratisierung der Gesundheitsversorgung. Nicht zuletzt, weil die DiGA barrierefrei und nutzerfreundlich sein müssen, um breite Akzeptanz zu erreichen.
Viele Patient:innen haben zudem Zweifel an der ePA aufgrund der Sicherheit ihrer sensiblen Gesundheitsdaten. Aus diesem Grund spielt der Datenschutz eine entscheidende Rolle, ob digitale Anwendungen flächendeckend angenommen werden. Ist es für Medizin-er:innen diesbezüglich notwendig, sich spezielles Wissen über Datenschutz anzueignen?
Wir bieten CME zertifizierte Schulungen für Mediziner:innen an, die natürlich auch die grundlegenden Vorgaben zum Datenschutz beinhalten. Ich finde ich es aber auch wichtig, dass alle Patient:innen über Datenschutz Bescheid wissen und nachvollziehen können, was mit den eigenen Daten passiert. Und um die ePA zu etablieren, muss die Bevölkerung verstehen, welche Vorteile diese für ihre eigene gesundheitliche Sicherheit und Versorgung mit sich bringen.
Die promovierte Pharmazeutin Dr. Anne Sophie Geier ist seit 2020 die Geschäftsführerin des Spitzenverbands Digitale Gesundheitsversorgung. Dr. Anne Sophie Geier hat Pharmazie studiert, im Bereich Real-World-Evidence und Outcomes Research an der WWU Münster und Harvard Medical School promoviert und anschließend in der Unternehmensberatung eines Pharmakonzerns gearbeitet. Zuletzt war Anne als Sachgebietsleiterin beim GKV-Spitzenverband für die frühe Nutzenbewertung von neu zugelassenen Arzneimitteln zuständig.
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