Wissenschaftler der Ruhr-Universität Bochum untersuchten in einer neuen Studie, was im Gehirn beim willentlichen Vergessen auf neuronaler Ebene passiert. Die Ergebnisse des Experiments und warum das Vergessen weit mehr als eine „lästige“ Alltagserscheinung ist, beschreibt Prof. Dr. Nikolai Axmacher, Leiter der Abteilung Neuropsychologie an der RUB, im Interview mit arzt & karriere.
Dass das Erinnern aus einer evolutionsbedingten Notwendigkeit heraus entstanden ist, scheint einleuchtend. Warum jedoch ist es wichtig, dass der Mensch auch vergessen kann?
Dafür gibt es verschiedene Gründe: Zum Beispiel erlaubt das Vergessen einen selektiveren Informationszugriff. Wenn wir eine bestimmte Verknüpfung erlernt haben, die sich im Laufe der Zeit ändert, können wir das vorher Gelernte vergessen, um primär das neue Wissen zu erinnern. Dafür ein ganz alltägliches Beispiel: Ich parke morgens mein Auto. Nun ist es natürlich ohnehin schon nicht leicht für mich, es wieder zu finden, weil es an verschiedenen Orten sein könnte. Es ist jedoch sehr hilfreich, wenn ich zumindest teilweise vergessen kann, wo ich es an den Tagen zuvor geparkt habe. Die Verknüpfung zwischen dem Auto und einer bestimmten räumlichen Position ist variabel und sollte somit auch wieder verlernt werden können, um sich anschließend an neue Orte, an denen das Auto geparkt wird, besser zu erinnern. Das Vergessen betrifft somit zum einen auf kognitiver Ebene neutrale Ereignisse. Andererseits ist es wichtig, sowohl motivational als auch emotional, wenn insbesondere emotional negative Ereignisse irgendwann wieder verblassen können. Etwas Negatives, das ich erlebt habe, wird im ersten Schritt vielleicht nicht vollständig vergessen, nimmt aber an Virulenz ab und verblasst. Die Gedächtnisspur wird dabei etwas schwächer – Zugreifbarkeit und Aktivierbarkeit der Information werden sozusagen reduziert.
Um nun etwas näher auf Ihr Experiment einzugehen: Sie forderten die Probanden dazu auf, bestimmte Wörter zu vergessen und sich an andere zu erinnern. Dabei maßen Sie die Gehirnaktivität über Elektroden. Was genau passiert den nun beim aktiven Vergessen im Gehirn?
Dem Experiment liegt das relativ alte „Directed Forgetting“-Paradigma zugrunde. Das gibt es schon seit einigen Jahrzehnten. Bei diesem Paradigma werden Probanden eine Reihe von Inhalten gezeigt. Nach jedem Inhalt folgt eine Instruktion, ob dieser erinnert oder vergessen werden soll. In all den verschiedenen Varianten der Experimente, die dazu bereits ausgeführt wurden, kann man beobachten, dass sich die Probanden besser an die Wörter erinnern, an die sie sich erinnern sollten. Lange war dabei aber unklar, ob das Vergessen tatsächlich ein aktiver Prozess ist. Nun könnte man denken, das liegt ganz einfach daran, dass die Patienten, immer wenn sie die Erinnerungsinstruktion bekommen haben, aktiv daran gedacht, und bei der Vergessensinstruktion nichts Besonderes getan haben. Die Frage war also immer, ob man mit diesen Experimenten nachweisen kann, ob es in der Realität tatsächlich einen aktiven, willentlichen Vergessensprozess gibt, das heißt, ob man Vergessen auch willentlich kontrollieren, steuern und verstärken kann. Das kann man eben bei den vergangenen Versuchen auf Verhaltensebene nicht sehen. Immer, wenn man das auf Verhaltensebene nicht sehen kann, dann helfen die kognitiven Neurowissenschaften weiter – nämlich damit, dass man versucht, neuronale Marker für aktive Kontrollprozesse zu finden.
Ein Marker für aktive Kontrollprozesse ist eine Aktivierung im präfrontalen Kortex, der für alle möglichen Arten von exekutiven Kontrollprozessen zuständig ist. Interessanterweise sieht man im „Directed Forgetting“-Paradigma, dass der präfrontale Kortex in der Vergessensbedingung, verglichen mit der Erinnerungsbedingung, aktiver wird. In gewisser Weise ist dies also eine Bestätigung früherer fMRT- und konventioneller EEG-Studien. In unserem Experiment haben wir nun auch die Aktivität im Hippocampus gemessen, der sehr tief im Gehirn liegt und deswegen nur schwer zu untersuchen ist. Wir führten unsere Untersuchungen mit Epilepsiepatienten durch, in deren Gehirne sich aus klinischen Gründen genau im Hippocampus Elektroden befinden. Somit konnten wir im Hippocampus eine neuronale Antwort finden, eine sogenannte Alpha-Oszillation, die ein Marker für Inhibition ist. Die Ergebnisse sprechen daher dafür, dass einerseits der präfrontale Kortex aktiviert wird – ein Hinweis für aktive Rekrutierung von Kontrollprozessen beim willentlichen Vergessen – und andererseits, dass der Hippocampus, als Hirnregion, die am wichtigsten für das Langzeitgedächtnis ist, unterdrückt wird.
Sie haben nun bereits den präfrontalen Kortex und dessen sehr aktive Rolle beim Vergessen erwähnt. Lässt sich mit dem Wissen um diese aktive Rolle der Hirnregion durch Stimulation extern Einfluss auf die Erinnerungs- beziehungsweise Vergessensprozesse nehmen?
Ja, das ist möglich. Diese Methode wurde auch schon verschiedentlich verwendet. Wenn beispielsweise bei diesem Paradigma in der Vergessensbedingung der präfrontale Kortex stimuliert und dadurch gehemmt wird, dann ist dieses willentliche Vergessen nicht mehr so gut möglich. Man vermindert sozusagen diese Fähigkeit, die vom präfrontalen Kortex ausgeht.
Wäre es in diesem Sinne auch möglich, einem Patienten, der an einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) leidet, dabei zu helfen, die traumatischen Ereignisse zu vergessen?
Da könnte man sich vorstellen, dass man im präfrontalen Kortex eine Aktivierung statt einer Inhibition herbeiführt, die das eher ermöglichen würde. Kurz bevor die Ergebnisse unseres Experiments erschienen sind, wurde eine Studie veröffentlicht, bei der ein ähnliches Paradigma bei Patienten mit Posttraumatischer Belastungsstörung durchgeführt wurde. Tatsächlich wurde dort entdeckt, dass die Patienten mit PTBS eine reduzierte Fähigkeit besitzen, Erinnerungen zu unterdrücken. Die Probanden waren mehrfach traumatisierte Flüchtlinge, von denen einige eine PTBS entwickelt hatten und andere wiederum nicht. Diejenigen, die die Störung entwickelten, hatten eine verminderte Fähigkeit, Gedächtnisinhalte zu unterdrücken.
Haben Sie denn bereits Pläne, in welche Richtung zukünftige Untersuchungen bezüglich des Vergessens gehen könnten?
Gerade der Zusammenhang von Traumatisierung und PTBS ist etwas, was mich sehr interessiert. Daran arbeiten wir zusammen mit der Klinik für Psychosomatik hier in Bochum, wo eine ganze Station nur für Traumapatienten zur Verfügung steht.
Die Theorie der „Repressed Memory“ besagt, dass traumatische Ereignisse von Betroffenen über Jahre hinweg verdrängt werden. Könnte man möglicherweise durch Stimulation des präfrontalen Kortex diese Erinnerungen wieder hervorzuholen?
Die kurze Antwort lautet: wahrscheinlich nicht. Man muss jedoch auch zwischen der Verdrängung und dem Vergessen unterscheiden. Meiner Einschätzung nach ist die willentliche Gedächtnisunterdrückung, die wir jetzt in der aktuellen Studie untersucht haben, ein anderer Prozess als die Verdrängung, nämlich ein sehr adaptiver Prozess. Das ist etwas Gesundes, wenn man in der Lage ist, neutrales oder auch belastendes Material zu unterdrücken. Das kann tatsächlich auch dazu führen, dass dieses belastende Material abgeschwächt wird und es somit nicht mehr eine so starke Rolle im eigenen Leben spielt.
Bei der Verdrängung passiert etwas ganz anderes. Es ist ein maladaptiver Prozess, der insbesondere bei psychodynamischen Konflikten auftritt. Um ein klassisches Beispiel aus der Psychoanalyse anzuführen: Wenn ich mich einerseits zu einer Person sexuell hingezogen fühle, aber andererseits denke, dass ich das nicht darf, weil ich beispielsweise verheiratet bin. Dann gibt es eine soziale Norm, die ich internalisiert habe. Der sexuelle Wunsch wird daher verdrängt. Es kann jedoch sein, dass dieser weiterhin in mir rumort. Und genau das ist das Merkmal der Verdrängung: Die verdrängten Wünsche verschwinden nicht einfach, sie verblassen nicht einfach, sondern bleiben letztlich am Leben und äußern sich schließlich pathologisch. Beispielsweise dadurch, dass ich plötzlich Bauchschmerzen habe, Herzrasen oder Panikattacken bekomme oder depressiv werde. Der Wunsch selbst ist also unbewusst, das Problem jedoch noch da. Das ist ja häufig auch der Ausgangspunkt von Psychotherapien, dass eine Beschwerde vorhanden ist, zum Beispiel eine körperliche psychosomatische Beschwerde oder eine Depression, und gar nicht klar ist, woher diese kommt.
Im Film Eternal Sunshine of the Spotless Mind geht es um ein Liebespaar, das sich nach einem Streit die Erinnerungen an den jeweils anderen vollständig entfernen lässt – ein erzwungenes Vergessen sozusagen. Glauben Sie, dass mithilfe zukünftiger Technologien und fortgeschrittenen Kenntnissen in der Neuropsychologie diese Prozeduren möglich sein werden?
Bei Nagetieren geht das schon. Da gibt es Studien, bei denen man bestimmte Gedächtnisinhalte labeln kann, wie es auch im Film passiert, in dem ja gezeigt wird, wie die Erinnerungen an die Freundin gesammelt werden. Wenn man die Erinnerungen dann gelabelt hat, kann man tierexperimentell über eine bestimmte Art der Stimulation diese spezifischen Inhalte unterdrücken.
Beim Menschen gibt es verschiedene Verfahren, wie der Hippocampus beziehungsweise das gesamte Erinnern unterdrückt werden kann. Das simpelste ist die Elektro-Krampftherapie. Auch wenn ich Benzodiazepine, wie zum Beispiel Valium, nehme, hemmen diese das Gedächtnis, jedoch nicht selektiv die Erinnerung an die unglückliche Liebesbeziehung. Das Besondere wäre ja dann, dass das für spezifische Erinnerungen möglich ist. Dies würde jedoch gentechnische Methoden erfordern, die beim Menschen möglicherweise auch machbar wären, aber viel zu unsicher und deswegen aktuell nicht ethisch vertretbar sind. Jedoch sind Ideen vorhanden, solche gentechnischen Methoden auch beim Menschen zu etablieren. Beispielsweise gibt es jetzt die allerersten Gentherapien, weswegen es technisch nicht ausgeschlossen ist, dass derartige Prozeduren auch für uns möglich werden. Die Fragen sind, ob man das wirklich möchte, also ob es gesellschaftlich und ethisch vertretbar ist, und besonders wann man diese Prozedur beim Menschen verwenden sollte. Würde man das Verfahren beispielsweise bei einer PTBS einsetzen, gäbe es auch das Problem, dass man nicht weiß, wie der Patient darauf reagiert, dass man nur ein bestimmtes Ereignis löscht. Ob das nicht zu stärkeren Beschwerden und Verwirrungen führen würde, da der Patient ja noch viele andere, möglicherweise mit dem Trauma zusammenhängende Ereignisse erinnert. Von all diesen Problemen und auch den vielen technische Hindernisse abgesehen, scheint es grundsätzlich wohl möglich zu sein, auch einzelne Gedächtnisspuren spezifischer Inhalte löschen zu können.
Das Interview führte Dominik Heller
Prof. Dr. Nikolai Axmacher ist Leiter der Abteilung Neuropsychologie und Direktor des Instituts für Kognitive Neurowissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum. Nach seinem Studium der Philosophie und Medizin promovierte er an der Humboldt Universität Berlin. Danach folgte seine Habilitation zum Thema „Memory processes in the medial temporal lobe“. In der Vergangenheit hatte Professor Axmacher unter anderem die Positionen Junior-Forschungsgruppenleiter am Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen und Emmy Noether Gruppenleiter in der Abteilung Epileptologie an der Universität Bonn inne. Seine Forschungsinteressen umfassen Stimulusspezifische Gedächtnisrepräsentationen, Gedächtniskonsolidierung, Arbeitsgedächtnis, Oszillationen, Neuropsychoanalyse und Tiefe Hirnstimulation.
Beitragsbild: Unsplash/Jesse Orrico
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