Warum ist Wissenschaftlichkeit im Medizinstudium so wichtig und welche Vorteile bringt es, sie bei Studierenden zu fördern? Diese und weitere Fragen beantwortet uns promovierte Diplom-Psychologin und Referentin für „Wissenschaftlichkeit im Medizinstudium“ Dr. Julia Eckel. Sie beschäftigte sich in der Arbeitsgruppe „Wissenschaftsstrang“ mit der Entwicklung, Implementierung und Evaluation des Curriculums zur Vermittlung wissenschaftlicher Kompetenzen im MaReCuM (Mannheimer Reformierten Curriculums Medizin).
Inwiefern sehen Sie aktuell Herausforderungen im Bereich der wissenschaftlichen Kompetenzentwicklung bei Studierenden und welche Auswirkungen können diese auf ihre zukünftige akademische Laufbahn haben?
Herausforderungen sehe ich aus didaktischer Sicht. Es geht um Kompetenzvermittlung und nicht ausschließlich um Wissenserwerb. Die Lehre wissenschaftlichen Denkens und Arbeitens benötigt viel Raum im Curriculum, sodass das kritisch wissenschaftlich-systematische Vorgehen auch verstanden, umgesetzt und reflektiert werden kann. Studierende müssen auch verstehen, warum eine wissenschaftliche Grundausbildung wichtig ist, auch für Ärzt:innen, die nicht forschen werden. Es müssen Anwendungsbezüge in der Lehre integriert sein, zum Beispiel Studien oder Leitlinien im Kontext von Patientenfällen kritisch bewertet werden.
Auch die Prüfung der Wissenschaftskompetenz ist aufwändig: Wenngleich einzelne isolierte wissenschaftliche Fertigkeiten, wie zum Beispiel Statistikkenntnisse geprüft werden können, ist eine ganzheitliche Prüfung nur durch eine wissenschaftliche Arbeit sinnvoll. Aktuell sind die Medizincurricula jedoch mit fachspezifischen Wissensinhalten und Lernzielen überfrachtet.
An vielen medizinischen Fakultäten sind daher keine obligatorischen Module zum wissenschaftlichen Arbeiten integriert oder wissenschaftliche Arbeiten im Curriculum implementiert. Die Vermittlung des systematisch-wissenschaftlichen Denkens und Arbeitens muss jedoch Anspruch eines jeden universitären Studiums sein. Ein Ziel des universitären Studiums ist es, zur Promotion zu befähigen. Nur so können qualifizierte Doktorarbeiten entstehen, die zu einem Erkenntnisgewinn führen. Ebenso braucht die Medizin Nachwuchsforscher:innen. Frühe Forschungserfahrungen im Studium sind wichtig, da diese das Interesse am wissenschaftlichen Arbeiten positiv beeinflussen können.
Benötigen auch Ärzte und Ärztinnen in der Klinik methodisch-wissenschaftliche Grundkenntnisse?
Absolut. Methodisch-wissenschaftliche Grundkenntnisse stellen eine notwendige Bedingung für die Anwendung Evidenzbasierter Medizin zur optimalen Patientenversorgung dar. Ärzte und Ärztinnen müssen, in einer Informationsflut medizinischer Fachliteratur, neue Entwicklungen in Diagnostik und Therapie identifizieren, kritisch analysieren und einordnen können. In Kontrast zeigen aktuelle Forschungsbefunde auf, dass Studierende sich bezüglich wissenschaftlicher Kompetenzen nicht ausreichend gefördert sehen und Kliniker:innen Probleme haben, Forschungsbefunde richtig zu lesen. Daher sollten wir gezielt diese Fertigkeiten bereits im Studium fördern.
Im Kontext des Projektes „Wissenschaftlichkeit im Medizinstudium“ haben Sie forschungsorientierte Ausbildungsangebote und die Lehre wissenschaftlicher Kompetenzen verstärkt. Könnten Sie uns näher erläutern, welche konkreten Maßnahmen und Instrumente Sie hierfür entwickelt haben?
Wir haben mit einer systematischen Bestandsaufnahme bestehender Veranstaltungen zur Vermittlung wissenschaftlicher Kompetenzen sowie einer Expertenbefragung mit Priorisierung von wissenschaftsorientierten Lernzielen durch Habilitierte unserer Fakultät begonnen.
Diese Ergebnisse wurden im Anschluss in der Arbeitsgruppe Wissenschaftsstrang mit Vertreter:innen aus Grundlagen, Klinik, Biomathematik, Public Health, Medizindidaktik und von Studierenden diskutiert. In der AG wurde ein Curriculum zur Vermittlung wissenschaftlicher Kompetenzen im Medizinstudium entwickelt, implementiert und evaluiert. Unter anderem beschloss die Medizinische Fakultät Mannheim im Modellstudiengang MaReCuM einen obligatorischen Leistungsnachweis „Wissenschaftliches Arbeiten“ zu verwirklichen, der seit WS 2015/16 zu erbringen ist.
Welche Veranstaltungen beinhaltet der Leistungsnachweis „Wissenschaftliches Arbeiten”?
Der Leistungsnachweis beinhaltet Veranstaltungen zur Literaturrecherche, Evidenzbasierten Medizin (Einführung), guten wissenschaftlichen Praxis, kritischen Beurteilung von wissenschaftlicher Evidenz und zu wissenschaftlichem Schreiben. Dieser schließt mit einer Forschungsarbeit ab, welche eine eigene wissenschaftliche Leistung der Studierenden darstellt.
Zudem runden eine Einführungsveranstaltung zum wissenschaftlichen Arbeiten, Laborpraktika in den Grundlagenfächern, Veranstaltungen zur Versuchsplanung, Biomathematik und Epidemiologie sowie Evidenzbasierter Medizin in der Klinik das Curriculum ab. Wissenschaftliche Bezüge werden standardmäßig in der Lehre eingebunden. Die administrative Abwicklung (das heißt Themenausschreibung, Anmeldung, Abgabe, Begutachtung von Forschungsarbeiten) erfolgt über das Informationssystem FAM (Forschungsarbeitsmanagement).
Welche Hürden oder Schwierigkeiten könnten Studierende bei der Umsetzung der von Ihnen empfohlenen Methoden erfahren?
Herausfordernd ist zunächst, dass der Entschluss zur Erweiterung oder Umgestaltung des (Wissenschafts-)Curriculums seitens der Fakultät angestoßen und gefasst werden muss. Zudem ist eine gemeinsame Definition von wissenschaftlichen Grundkompetenzen aller medizinischer Fachbereiche notwendige Voraussetzung für die Curriculumsentwicklung. Besteht diese, muss ein Expertenkonsens in Bezug auf die Inhalte und des Umfangs des Wissenschaftscurriculums getroffen werden. Hierbei spielen auch universitäre Gremien eine Rolle, wie die Studienkommission und der Fakultätsrat, die den neuen Entwicklungen – vor allem bei curricularem Aufwuchs – zustimmen müssen.
Bei der Umsetzung des Leistungsnachweises sollte bedacht werden, dass es für Studierende – und übrigens auch für viele Ärzt:innen – schwierig ist zu verstehen, warum jeder Arzt oder Ärztin – also nicht nur Forschende, sondern auch Kliniker:innen – wissenschaftliche Fertigkeiten benötigen. Insbesondere vor dem Hintergrund, dass die Umsetzung der kritischen Studienanalyse und wissenschaftlich-kritischen Analyse von Leitlinien durch eine unzureichende wissenschaftliche Ausbildung am Patientenbett im klinischen Alltag bis dato nur unzureichend gelungen ist. Eine verbesserte wissenschaftliche Ausbildung im Studium wird sich erst in ein paar Jahren im Klinikalltag widerspiegeln.
Warum sind wissenschaftliche Fertigkeiten und die damit verbundene wissenschaftliche Kritikfähigkeit so wichtig?
Es fällt vielen Studierenden schwer, eigenständig (wissenschaftlich-) kritisch zu denken, da es im Medizinstudium selten gefordert wird. Wissenschaftliche Kritikfähigkeit ist aber angesichts der rasanten Erweiterung des medizinischen Wissens erforderlich. Der gesamte Forschungsprozess muss verstanden werden, Studien kritisch hinterfragt werden. Hierbei spielen viele wissenschaftliche Kriterien eine Rolle, zum Beispiel die Passung von Forschungsfrage und wissenschaftlichem Vorgehen, die statistische Analyse, die Einbettung der Forschungsbefunde in den Forschungsstand sowie die Zulässigkeit der Übertragung der Ergebnisse auf die Patient:innen. An der Medizinischen Fakultät Mannheim werden die Studierenden schon im 1. Studienjahr in das wissenschaftliche Arbeiten eingeführt.
Zudem haben wir im Pflichtcurriculum Veranstaltungen zur systematischen Literaturrecherche, Studienplanung und kritischer Beurteilung wissenschaftlicher Evidenz / Evidenzbasierten Medizin implementiert, um unsere Studierenden gezielt bezüglich dieser Aspekte auszubilden. Ebenso ist uns eine strukturierte Betreuung der Forschungsarbeiten wichtig. Zwischen Studierenden und Betreuungspersonen wird zu Beginn der Forschungsarbeit daher eine Betreuungsvereinbarung abgeschlossen. Evaluationen an unserer Fakultät zeigen, dass Studierende den Sinn der wissenschaftlichen Ausbildung verstehen und positiv werten, wenngleich diese zeitlich aufwändig ist.
Basierend auf Ihren Erfahrungen und den laufenden Evaluierungen, welche konkreten Empfehlungen würden Sie angehenden Ärzt:innen und Medizinstudierenden geben, um ihre wissenschaftlichen Kompetenzen effektiv zu stärken?
Von Seiten der Universität gibt es zahlreiche Ausbildungs- und Weiterbildungsmöglichkeiten. Wichtig ist, ein grundlegendes Verständnis von wissenschaftlichem Arbeiten zu bekommen. Das heißt Wissen über den Forschungszyklus, die Fähigkeit, Fragestellungen abzuleiten, Literatur zu finden und kritisch zu bewerten, Daten zu erheben sowie Ergebnisse zu diskutieren und zu präsentieren. Am besten, und das ist auch lerntheoretisch begründet und vielseitig wissenschaftlich diskutiert, wird wissenschaftliches Denken und Arbeiten durch eine eigenständige wissenschaftliche Arbeit erlernt.
Wie kann das Projekt „Wissenschaftlichkeit im Medizinstudium“ nicht nur die wissenschaftliche Entwicklung der Studierenden, sondern auch ihre klinische Praxis und Patientenversorgung positiv beeinflussen?
Methodisch-wissenschaftliche Grundkenntnisse sind eine Voraussetzung für eine zeitnahe und umfassende Integration wissenschaftlicher Erkenntnisse in den medizinischen Alltag.
Aktuelle wissenschaftliche Studien und Leitlinien müssen im Kontext eines rasanten Zuwachses an medizinischer Fachliteratur identifiziert und bewertet werden können. Und wenn wissenschaftlicher Erkenntnisgewinn in verbesserter Diagnostik und Therapien resultiert, wird der Patient/die Patientin auch langfristig davon profitieren.
Gibt es spezifische Ressourcen, Plattformen oder innovative Ansätze, die Sie besonders empfehlen, um wissenschaftliche Kenntnisse effektiv zu erweitern und anzuwenden?
Bei der Universität Heidelberg werden zudem gezielt Kurse zur wissenschaftlichen Weiterbildung angeboten, die sicher auch bei anderen Universitäten bestehen. Das internationale Forschungsnetzwerk Cochrane bietet zudem Workshops an. An der medizinischen Fakultät Frankfurt gibt es Basis-, Aufbau und Didaktikkurse zur Anwendung von Evidenzbasierter Medizin.
Welche Auswirkungen könnten regulatorische Eingriffe oder politische Maßnahmen auf die Förderung wissenschaftlicher Kompetenzen im medizinischen Studium haben?
Empfehlungen in Bezug auf die Förderung wissenschaftlicher Kompetenzen des Wissenschaftsrats, der AWMF, des Medizinischen Fakultätentags, der BVMD oder weiterer Fachgesellschaften sind wichtig, um Veränderungen anzuregen und zu bewirken.
Universitäten sind damit aufgefordert Ihre Ausbildung zu prüfen und gegebenenfalls zu verbessern.
Zum Beispiel wurde die Notwendigkeit der Implementierung einer wissenschaftlichen Arbeit zur Prüfung wissenschaftlicher Kompetenzen im Medizinstudium von verschiedenen Instituten, Organisationen und Fachverbänden gefordert, was deren Wichtigkeit verdeutlicht, Handlungsbedarf zur Verbesserung der Curricula signalisiert und darin auch resultiert. Im neuen Referentenentwurf des Bundesministeriums für Gesundheit zur Verordnung zur Neuregelung der ärztlichen Ausbildung wurde ein Leistungsnachweis über eine wissenschaftliche Arbeit mit Begleitcurriculum neu aufgenommen.
Welche Entwicklungen erwarten Sie für die Förderung wissenschaftlicher Fähigkeiten im medizinischen Studium in den nächsten Jahren, insbesondere unter Berücksichtigung neuer Technologien und möglicher politischer Veränderungen?
Der Nationale Kompetenzbasierte Lernzielkatalog Medizin (NKLM) wird voraussichtlich ab 2025 verbindlicher Teil der neuen ärztlichen Approbationsordnung (ÄApprO) und damit maßgeblich für die Gestaltung der Kerncurricula aller Medizinischen Fakultäten in Deutschland werden. Damit werden auch „Medizinisch-wissenschaftliche Fertigkeiten“ (NKLM-Kapitel VIII.) an den medizinischen Fakultäten in Deutschland verpflichtend gelehrt werden.
Künstliche Intelligenz (KI) wird in Zukunft weite Teile der medizinischen Forschung beeinflussen und daher zunehmend im Studium abgebildet werden. Es wird wichtig sein, ethische Aspekte zu erörtern, wie die Frage, wie viel die KI im Forschungsprozess übernehmen kann beziehungsweise sollte.
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Interviewpartnerin Dr. Julia Eckel ist promovierte Diplom-Psychologin und Referentin für „Wissenschaftlichkeit im Medizinstudium“ im Geschäftsbereich Studium und Lehrentwicklung der Medizinischen Fakultät Mannheim der Universität Heidelberg, Universitätsmedizin Mannheim (UMM). Ihr Forschungsschwerpunkt an der Medizinischen Fakultät Mannheim ist die Ausbildungsforschung. Ihr Ziel ist es, das Wissen und Verständnis von Lehr-, Lern- und Ausbildungsprozessen zu vertiefen und deren Wirkungsweisen in verschiedenen curricularen Settings systematisch zu untersuchen.