Die Allgemeinmedizin spielt die tragende Rolle in der Gesundheitsversorgung. Prof. Dr. Marco Roos wurde für den neu eingerichteten Lehrstuhl des Instituts für Allgemeinmedizin an die Universität Augsburg berufen und erklärt im Interview, warum mehr Praxisorientierung und Interprofessionaliät im Medizinstudium ein wichtiger Bestandteil für eine zukunftsfähige, wohnortnahe Gesundheitsversorgung sind.
Vor Kurzem wurden Sie als Professor des neu entstandenen Instituts für Allgemeinmedizin an die Universität Augsburg berufen. Sie sind Allgemeinmediziner aus Leidenschaft und vermitteln Ihr Pathos an Ihre Studierenden.
Für mich ist die Allgemeinmedizin die Disziplin, die die größte Schnittmenge mit der Vorstellung hat, mit der die meisten jungen Menschen das Medizinstudium beginnen: Eine Ärztin, ein Arzt, der für alle Fragen zur Gesundheit für seine Patient:innen da ist und sie über einen längeren Zeitraum begleitet.
Dann fällt mir auf, dass es im Medizinstudium viele Mythen um die Allgemeinmedizin gibt, die ich gerne berichtigen möchte. Die Allgemeinmedizin ist eben nicht die Einzelkämpfershow eines grauhaarigen Mediziners, der nur Banalitäten behandelt, Überweisungen schreibt und 24/7 für seine Patient:innen verfügbar ist. Die Allgemeinmedizin ist ein junges, modernes und intellektuell anspruchsvolles Fach, das sich gut mit dem eigenen Familienleben vereinen lässt. Daher habe ich auch mit fünf jungen Kolleg:innen das „Festival der Allgemeinmedizin“ ins Leben gerufen, auf dem wir in deutschlandweiten Onlineveranstaltungen die „neue“ Allgemeinmedizin vorstellen.
Der Allgemeinmediziner sollte eigentlich die erste Anlaufstelle für alle gesundheitlichen Probleme sein. Warum wurde einer Ausbildung in diesem gesellschaftlich elementaren Bereich bisher so wenig Aufmerksamkeit geschenkt?
Die Hausärztinnen und Hausärzte SIND die erste Anlaufstelle für alle gesundheitlichen Probleme im deutschen Gesundheitswesen. Etwa vier von fünf Patient:innen werden auch kompetent in den hausärztlichen Praxen versorgt und benötigen keinem weiteren Kontakt im Gesundheitswesen. Obwohl Hausärzt:innen von je her eine wichtige Säule in der Gesundheitsversorgung waren, ist die Allgemeinmedizin ein „junges“ akademisches Fach. Ein Grund mag darin liegen, dass hausärztliche Patientenversorgung in Universitätsklinika nicht stattfindet und daher nicht im Blick war. Zudem konnte man sich früher als „praktischer Arzt“ ohne spezifische Facharztweiterbildung niederlassen. Wenn man die Entwicklung der letzten 30 Jahre betrachtet, hat sich das komplett geändert. Es gibt, wie für jede andere Disziplin auch, eine fünfjährige Facharztweiterbildung mit spezifischen Inhalten, die auch in der Form nur in der Allgemeinmedizin erfahren werden können, wie beispielsweise die langjährige Betreuung von chronisch Kranken. Dazu sind inzwischen an nahezu allen medizinischen Fakultäten Lehrstühle für Allgemeinmedizin in Lehre, Forschung und auch in der Patientenversorgung etabliert. Damit verbunden ist auch eine andere Aufmerksamkeit beim ärztlichen Nachwuchs entstanden.
Warum entscheiden sich Ihrer Meinung nach so wenig Nachwuchs für die Allgemeinmedizin?
Erfreulicherweise nimmt der Anteil derer, die Allgemeinmedizin als Karriere für sich in Betracht ziehen, seit einigen Jahren stetig zu. Beispielsweise zeigt das Berufsmonitoring, das die BVMD mit der KBV und der Universität Trier durchführt, dass von den Medizinstudierenden bis zu einem Drittel die Allgemeinmedizin für sich in Betracht ziehen, Allgemeinmedizin ist damit unter den Top 3. Die Frage nach dem Bedarf ist hingegen eine andere und viel komplexer. Da spielen Faktoren, wie ein generell höherer Bedarf an ärztlichem Nachwuchs aufgrund von Regelungen des Arbeitszeitschutzes, ein sich verändertes Arbeitsfeld mit höherem Anteil an Anstellung und Teilzeitbeschäftigungen aber auch gesellschaftliche Phänomene wie die Urbanisierung eine Rolle. Gerade in diesen Aspekten hat die Allgemeinmedizin gute Antworten auf die Bedürfnisse junger Ärzt:innen. In Bayern hat seit 2014 die Facharztanerkennung im Fach Allgemeinmedizin stetig zugenommen.
Allgemeinmedizin ist inzwischen ein Pflichtteil des Medizinstudiums und auch das PJ kann in einer Hausarztpraxis absolviert werden. Reichen diese Maßnahmen Ihrer Meinung nach aus, um den Mangel an Fachkräften in Zukunft auszugleichen?
Wie in der vorherigen Antwort angerissen, greift eine Verknappung des Problems mit mehr Studienplätzen und mehr Studierenden in der Allgemeinmedizin, um dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken, zu kurz. Die wohnortnahe Gesundheitsversorgung ist im Wandel und es benötigt zukunftsfähige Konzepte, die die jetzige Regelversorgung erweitern und einen verschiedenen Bedarf nach sich ziehen.
Dafür ist als eine Maßnahme eine Anpassung des Medizinstudiums notwendig, darin sind sich alle einig. Mit dem Masterplan 2020 und dem daraus entstandenen Vorschlag für eine Novellierung der Ärztlichen Approbationsordnung sind bereits weitere wichtige Maßnahmen angelegt. Dazu zählen mehr Praxisorientierung, Interprofessionalität, aber auch ein kontinuierlicher Anteil an Allgemeinmedizin über das gesamte Studium, sowie die Quartalisierung des PJ mit einem Pflichtteil in der ambulanten Versorgung. Wir hoffen, dass die Novelle nun bald ratifiziert wird und in Kraft treten kann.
Können Sie uns einen Einblick in den Modellstudiengang, den Sie an der Uni Augsburg anbieten, geben?
Der Modellstudiengang in Augsburg setzt bereits heute viele Elemente aus dem Masterplan um. Es gibt longitudinal angelegte Inhalte, die wichtige Kompetenzen zukünftiger Ärztinnen und Ärzte entwickeln sollen, wie beispielsweise ärztliche Kommunikation, klinische Entscheidungsfindung, aber auch professionelle Haltung. Das medizinische Fachwissen wird in Augsburg nicht fächerspezifisch, sondern in interdisziplinären Modulen gemeinsam gelehrt. Dazu fließen die zukunftswichtigen Forschungsschwerpunkte der Universität, „Umwelt und Gesundheit“ und „Medizininformatik“, stärker in die Ausbildung ein. Eine sehr motivierende Umgebung.
Welche spezifischen Fähigkeiten sollten sich Hausärzt:innen neben dem medizinischen Fachwissen aneignen?
Neben einem breiten medizinischen Fachwissen benötigen Hausärzt:innen und Hausärzte alle Kompetenzen, wie sie in Kompetenzmodellen inzwischen in die Ausbildung einfließen und die ich oben bereits genannt habe. Was es in der Allgemeinmedizin darüber hinaus benötigt, ist der Umgang mit diagnostischer Unsicherheit und den patientenindividuellen Blick, um komplexe Situationen aufzulösen. Bei einer zunehmend alternden und multimorbiden Gesellschaft, die auf immer schneller wachsende Möglichkeiten in der Diagnostik und Therapie von Erkrankungen trifft, benötigen Patienten eine sichere Anlaufstelle, an der alle Informationen zusammenlaufen und gemeinsam nach den Wünschen der Patientenversorgung priorisiert werden kann. Daher wird es in Zukunft auch immer Hausärzt:innen benötigen.
Trotz allem Altruismus, der zum Beruf des Arztes gehört, spielt die zukünftigen Verdienstmöglichkeiten auch eine Rolle bei der Entscheidung zur:m Allgemeinmediziner:in. Wie schätze Sie die Aussichten diesbezüglich vor allem in ländlichen Regionen oder strukturschwachen Städten ein?
Der Verdienst in der Allgemeinmedizin ist gut. Er ist im Durchschnitt deutlich höher als der einer:s Oberärztin/-arztes in der Klinik. Natürlich gibt es in anderen Fachdisziplinen im ambulanten Bereich höhere Verdienstmöglichkeiten, dort sind aber auch meist deutlich höhere Investitionen zu tätigen. Sicherlich begünstigt das aktuelle Abrechnungssystem technische Untersuchungen, was aber erfreulicherweise nicht so bleiben muss. Generell sind die Verdienstmöglichkeiten aktuell in Gebieten mit geringerem Versorgungsgrad sogar besser als in urbanen Zentren, was schlichtweg daran liegt, dass man in solchen Regionen mehr Patienten in der Praxis hat.
Viele Ärzt:innen auf dem Land gründen eine Gemeinschaftspraxis oder lassen sich als Teil eines Gesundheitszentrums nieder. Ist das die einzige Möglichkeit, wirtschaftlich effizient zu arbeiten?
Natürlich gibt es eine Zunahme von kollaborativen Praxisformen, die Einzelpraxis stellt jedoch immer noch den Löwenanteil. Der Wunsch nach Gemeinschaft und Arbeiten im Team ist wichtiger und wird von der nachkommenden Ärztegeneration in allen Fächern gewünscht. Gründe dafür liegen sicher in einem veränderten Bewusstsein für die eigene Work-Life-Balance, Familienleben ist geteilte Aufgabe der Partner:innen und wir finden Teilzeitmodelle bei Familien mit kleinen Kindern. Dazu ist auch das ärztliche Arbeiten im Team für viele wichtig, da man eigene Unsicherheit reduziert und fachlichen Austausch schätzt. Dazu lassen sich auch Vertretungen deutlich besser regeln. Dennoch habe ich auch viele Beispiele junger Mütter, die sich als Hausärztinnen ganz bewusst in einer Einzelpraxis auf dem Land niederlassen, weil sie somit alle lebensbeeinflussenden Faktoren gemäß ihrer Bedürfnisse steuern können. Die Möglichkeiten werden divers, wirtschaftlich sind sie aus meiner Perspektive alle.
Einige junge Ärzt:innen haben Angst, sich zu verschulden, um eine Praxis zu übernehmen oder zu eröffnen. Ist die Angst berechtigt?
Klares nein. Natürlich bedeutet die freiberufliche Niederlassung ein gewisses wirtschaftliches Risiko, Angst davor muss man allerdings keine haben. Einerseits bereiten wir Ärzt:innen in Weiterbildung auf diese Aufgabe vor: So haben wir im Studium Kurse in Zusammenarbeit mit der KVB, die einen ersten Einblick in die Niederlassung geben. Im Kompetenzzentrum Weiterbildung Allgemeinmedizin Bayern (KWAB), das ich leiten darf, vertiefen wir das und bereiten auf die „Betriebswirtschaft einer Praxis“ vor. Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die finanzielle Förderung von Niederlassungen in unterversorgten Gebieten durch die KVB oder auch das Staatsministerium für Gesundheit und Pflege Bayern, wo mit Umsatzgarantien oder mehreren 10.000 Euro je nach Standort gefördert wird. Zuletzt muss man sagen, dass die Zahl der Hausarztpraxen, die Konkurs anmelden müssen, deutschlandweit gering ist und seit Jahren sinkt.
Prof. Dr. med. Marco Roos schloss 2008 sein Studium der Humanmedizin an der Ruprecht-Karls-Universität ab. Schon als Student erwarb er Kompetenzen in der Hochschuldidaktik und arbeitete in diesem Bereich in der Abteilung für Allgemeinmedizin und Versorgungsforschung am Universitätsklinikum Heidelberg und dem KompetenzZentrum Allgemeinmedizin Baden-Württemberg. Den Ruf der Universität Augsburg an den Lehrstuhl für Allgemeinmedizin nahm er im Februar 2022 an.
Mehr zum Thema Allgemeinmedizin und Niederlassung finden Sie in unserer Rubrik „Initiative Stadt-/Landärzt:innen“