Vivantes, Deutschlands größter kommunaler Krankenhauskonzern, hat sich Gedanken gemacht, wie digitale Gesundheitsleistungen effizienter implementiert werden können. Dr. med. Mina Baumgarten und Gino Liguori erklären, warum sie den von ihnen dazu entwickelten Werkzeugkasten auch für andere Kliniken geöffnet haben.
Sie haben federführend das Digital Health-Playbook entwickelt. Worum geht es dabei genau und was war die Intention?
Baumgarten: Unser Vivantes Digital Health-Playbook soll für verschiedene Adressaten eine Art Werkzeugkasten für die Nutzung digitaler Gesundheitsleistungen und -methoden sein. Es gibt einen allgemeinen Überblick zum Thema Digital Health und zu digitalen Gesundheitsleistungen. Insbesondere den klinischen Nutzer:innen zeigt es die rechtlichen, technischen und prozessualen Anforderungen für deren Anwendung auf. Deshalb enthält es konkrete Beispiele und Schritt-für-Schritt-Anleitungen zur Einführung digitaler Gesundheitsleistungen wie Videosprechstunden, Gesundheits-Apps und Telemonitoring-Lösungen. Das Portal richtet sich in erster Linie an unsere unternehmenseigenen Kliniken, um die Nutzung digitaler Gesundheitsleistungen bei Vivantes – wo medizinisch sinnvoll – noch weiter zu steigern und damit die Versorgungsqualität in unseren Kliniken, MVZ und anderen Gesundheitseinrichtungen weiter zu optimieren. Bei alldem arbeiten wir eng mit unserer IT zusammen. Ganz explizit teilen wir die Informationen aber auch öffentlich.
Wie sind Sie methodisch vorgegangen und wie haben Sie die Bedürfnisse der verschiedenen medizinischen Abteilungen integriert? Was waren die besonderen Schwierigkeiten bei der Entwicklung des Playbooks?
Liguori: Als erstes haben wir geschaut: Gibt es das schon für den deutschen Kontext? Die Antwort war: Nein. Dann haben wir eine Ist-Abfrage in unseren Kliniken durchgeführt, um einen Überblick der bei Vivantes aktuell eingesetzten digitalen Gesundheitsleistungen zu erhalten. Parallel dazu haben wir Recherchen zum Digital Health-Markt durchgeführt und zusammengefasst, welche rechtlichen, prozessualen und technischen Anforderungen bei der Erbringung verschiedener digitaler Gesundheitsleistungen gelten. Hierbei war es uns auch ein Anliegen, international zu vergleichen, in welchen Märkten digitale Gesundheitsleistungen in welchem Maße angeboten und genutzt werden, um better practices für unser eigenes Vorhaben der Stärkung von Telemedizin bei Vivantes abzuleiten. Daneben haben wir uns auch Vivantes-intern bezüglich verschiedener Informationsbedürfnisse und grundsätzlicher Möglichkeiten informiert – so können etwa nicht alle digitalen Leistungen in ambulanten und stationären Bereichen gleichermaßen angeboten wer- den. Diese Unterschiede haben wir herausgearbeitet und in den inhaltlichen Bereichen des Playbooks widergespiegelt. Letztlich haben wir alle Ergebnisse zusammengeführt, den Internetauftritt konzeptioniert und umgesetzt, die Prozessbilder, Praxishilfen, Standardvorgaben und sonstigen Tools erstellt und an den richtigen Stellen des Playbooks verlinkt. Daraufhin haben wir eine interne Kommunikationskampagne angestoßen, um die erstellten Praxishilfen aus dem Playbook an unsere medizinischen Bereiche heranzutragen und kontinuierlich Feedback aufzunehmen. Herausfordernd war es dabei, im stressigen Alltag der Behandelnden Zeit für die Auseinandersetzung mit Telemedizin zu finden und in den richtigen Gremien zielgruppenspezifisch zu kommunizieren, welche Leistungen für wen relevant sind.
Können Sie anhand eines oder zwei Beispielen zeigen, wohin die digitale Reise bei Vivantes geht? Wo ist das Feedback besonders positiv und der Effizienzgewinn hoch?
Baumgarten: Auch die Corona-Pandemie hat in Sachen Telemedizin wie ein Beschleuniger gewirkt – diesen Aufschwung wollen wir weiterhin nutzen, um insbesondere telemedizinische Angebote auszubauen. So wollen wir etwa ein telemedizinisches Zentrum etablieren, aus dem heraus Patient:innen mit verschiedenen Indikationen gemonitort werden können. Dies ist nur einer der Eckpfeiler der Vivantes-Strategie, um die stetig voranschreitende Ambulantisierung im Sinne unserer Patient:innen mitzugestalten. Darüber hinaus halte ich das Beispiel intelligenter Algorithmen zur Entscheidungsunterstützung in medizinischen Bereichen für ein gutes – wir arbeiten an verschiedenen Lösungen, die Behandelnden etwa eine Diagnose vorschlagen, welche dann angenommen, abgelehnt und/oder angepasst werden kann. Diese Lösungen schaffen Mehrwerte, da sie administrativ und damit zeitlich entlasten. Wenn sie funktionieren und die gewünschten Ergebnisse liefern, ist das Feedback durchaus positiv und der Effizienzgewinn schon jetzt erkennbar. Besonders wichtig ist es aber auch, die Lücken in der Basisdigitalisierung – also bei der Planung und Dokumentation von medizinischen und pflegerischen Tätigkeiten – zu schließen, damit für unsere klinischen Kolleg:innen mehr Zeit für die direkte Arbeit mit den Patient:innen bleibt!
Sie haben sich bewusst dafür entschieden, dass Ihr Digital Health Playbook kein Herrschaftswissen bleiben soll und andere Marktteilnehmer an Ihrer Arbeit partizipieren lassen. Warum?
Liguori: Das Playbook richtet sich, wie Frau Dr. Baumgarten bereits beschrieb, vorwiegend an unsere unternehmenseigenen Gesundheitseinrichtungen, aber in der Tat auch an alle anderen Akteure der Gesundheitsbranche im deutschsprachigen Raum. Wir zielen darauf ab, die Nutzung digitaler Gesundheitsleistungen in unserer Region insgesamt zu steigern und damit die Versorgungsqualität in allen Gesundheitseinrichtungen zu verbessern. Wir halten dieses Wissen für essenziell und teilen es gern, da es letztlich Patient:innen und dem Gesundheitswesen insgesamt zugutekommen kann. Das Playbook soll außerdem stetig weiter entwickelt und an die Bedürfnisse der Nutzer:innen angepasst werden. Daher ist die externe Veröffentlichung für uns auch eine Einladung, dies mitzugestalten und mit uns bezüglich digitaler Gesundheitsleistungen in Kontakt zu treten.
Was an konkreten Implementierungshilfen erhalten diejenigen Ärzt:innen, die Ihr Playbook nutzen möchten, um digitale Gesundheitsleistungen einführen oder ausbauen zu können?
Liguori: Wir wollen für alle relevanten digitalen Gesundheitsleistungen hilfreiche Werkzeuge an die Hand geben: Von der Durchführung einer Evaluation der eigens angebotenen digitalen Gesundheitsleistungen über das vorbereitete Informationsblatt für Patient:innen bezüglich Telemonitoring hin zu den Tipps und Tricks bei Aufsatz, Durchführung und Evaluation von Videosprechstunden. So bieten wir zusammenhängende digitale Lösungen im eigenen Bereich mit so geringem Aufwand wie möglich an. Ziel war und ist es daher, auf der Seite einer einzelnen Leistung alles von der anfänglichen Recherche rund um die Leistung bis hin zur Evaluation nach ihrer Erbringung zu finden und so optimal entlang der gesamten digitalen Interaktion mit den eigenen Patient:innen unterstützt zu werden.
Digitale Lösungsanbieter gibt es immer mehr am Markt. Gleichzeitig ist die Digitalkompetenz in vielen Krankenhäusern, MVZ oder Praxen nicht derart entwickelt, dass man auch nur annähernd auf fachlicher Augenhöhe die Leistungsfähigkeit der angebotenen Lösungen beurteilen könnte. Sehen Sie dies als Problem, dass inhouse kaum Digitalkompetenz vorhanden ist?
Und wie löst man dieses Problem? Baumgarten: Das Thema steht für uns auch absolut im Mittelpunkt. Wir arbeiten eng mit unseren internen Personalentwicklungs- und Organisationsberater:innen zusammen, um flächendeckend zu verstehen, welches Maß an Digitalkompetenz wir bei Vivantes haben, wie die Digitalkompetenz der Zukunft pro Rolle konkret aussehen soll und mit welchen Entwicklungs- und Schulungsmaßnahmen wir diesen Soll-Zustand pro Kompetenzprofil erreichen wollen. Wenngleich mangelnde Digitalkompetenz als „Problem“ anzusehen ist, müssen wir auch anerkennen, dass die Transformation der medizinischen Berufe Zeit braucht. Daher dürfen wir nicht müde werden, Potentiale der Digitalisierung auf Augenhöhe zu erklären und darzustellen. Dabei nehmen wir auch not- wendigen Input der Fachseite auf, um Integrierbarkeit beziehungsweise Optimierung medizinischer Prozesse sicher- zustellen. Darüber hinaus wird bei Vivantes viel Innovation von den Kliniken selbst angetrieben, in denen auch motivierte und digitalaffine Menschen arbeiten, die mit innovativen Ideen auf uns zukommen.
Wo sehen Sie aktuell die größten Hürden in der Digitalisierung im Gesundheitswesen im Allgemeinen und wo die größten Herausforderungen für Vivantes?
Liguori: Grundsätzlich stellen wir persönlich im Gesundheitswesen teilweise fehlenden Willen und mangelnde Organisationsstrukturen fest, um die Digitalisierung voranzubringen. Mit dem Krankenhauszukunftsgesetz und anderen regulativen Anreizen würde ich behaupten, dass die aktuellen Finanzierungsmöglichkeiten und Gesetzgebungen eher weniger ein Hindernis darstellen. Viel mehr fehlen jedoch auch Nutzennachweise der Digitalisierung sowie die oft benötigte, tatsächlich gegebene Interoperabilität. Diese Herausforderungen haben wir auch bei Vivantes. Deshalb wollen wir diese etwa mit konsequenter Evaluation und damit stärker evidenzbasierten Entscheidungen bezüglich all unserer Digitalisierungsprojekte angehen. Weitere Lösungsansätze sind für uns eine Stärkung der Patient:innenrolle, das frühe Einbinden der Anwender:innen und die Schaffung entsprechender Anreize im Umgang mit digitalen Lösungen. Darüber hinaus bedarf es immer wieder einer positiven Kommunikation über Möglichkeiten und Nutzen digitaler Lösungen sowie der Befähigung der Anwender:innen durch entsprechende Weiterbildung, die Frau Dr. Baumgarten bereits ansprach.
Ein digitalisierter Krankenhauskonzern kann nicht nur im Wettbewerb um Patient:innen punkten, sondern wird auch in der Personalbindung und im Recruiting davon profitieren. Wofür soll Vivantes stehen?
Baumgarten: Das sehen wir ganz genauso! Vivantes möchte ein innovativer Gesundheitskonzern sein, in dem insbesondere digitale Lösungen und neue Technologien eingesetzt werden, um echte Mehrwerte zu schaffen und Schmerzpunkte zu lösen. Digitalisierung soll daher nicht um der Digitialisierungswillen geschehen, sondern immer als Teil ganzheitlicher Prozessverbesserung gesehen werden. Dazu laden wir alle Mitarbeitenden bei Vivantes ein, die eigenen Prozesse mitzugestalten und sich insbesondere für die Validierung und Verbesserung von Digital Health-Lösungen einzubringen. Wir freuen uns über alle, die im Sinne der Patient:innen optimal digital gestützte Versorgungsleistungen erbringen wollen.
Dr. med. Mina Baumgarten leitet das Ressort „Entwicklung Krankenversorgung und Qualität” bei Vivantes und trägt die Verantwortung für die Bereiche Patient:innensicherheit/Qualitätsmanagement, Klinische Prozess- und Organisationsberatung sowie patient:innenzentrierte und anwendungsorientierte Digitalisierung.
Gino Liguori ist Abteilungsleiter Digital Health & Innovation bei Vivantes und verantwortet die Umsetzung von Strategieprojekten im Bereich Digital Health – zum Beispiel zu Telemedizin/digitalen Gesundheitsleistungen, Künstlicher Intelligenz, intelligenter Datenanalyse und Prozessinnovation.