Das Reizdarmsyndrom ist einer der häufigsten Magen-Darm-Erkrankungen – schätzungsweise sollen derzeit siebte deutschen Einwohner betroffen sein. Ärzte gehen jedoch davon aus, dass es vermutlich mehr Betroffene gibt als die rund 11,1 Millionen diagnostizierten Patienten. Die beiden Gründer von CaraCare möchten den Betroffenen Eines bieten: die medikamentöse Behandlung von Darmerkrankungen durch eine digitale Behandlung unterstützen oder sogar ersetzen. Wie genau das Start-up den Patient:innen durch ihre App hilft und wie es zu der Idee dahinter kam, erzählt uns der Gründer Jesaja Brinkmann im Interview.
Wie kam es zu der Idee von CaraCare?
Ich habe am UKE in Hamburg Medizin studiert. Dort gab es 2011 die EHEC-Epidemie, bei der festgestellt wurde, dass zirka 20 Prozent der Betroffenen ein postinfektiöses Reizdarmsyndrom entwickelt haben. Vorher waren sie völlig gesund, dann erleideten eine schlimme Magen-Darm-Infektion, die wahrscheinlich über bestimmtes Sprossengemüse ausgelöst wurde. Im Anschluss an diese Infektion erkrankten die Leute chronisch am Reizdarmsyndrom. In der Studie haben wir untersucht, ob man durch sogenannte Stuhltransplantation die chronische Erkrankung heilen kann. Durch die Beschäftigung mit den Mikrobiom, dem Darm und dem Reizdarmsyndrom, habe ich erst gemerkt, wie wenig wir in der Medizin verstehen, was die Ursachen für verschiedene Darmerkrankungen sind.
Daraufhin habe ich vor gut 7 Jahren meine Doktorarbeit an der Harvard-Medical School in Boston geschrieben – während meines Studiums. Dort habe ich auch meinen Mitgründer – und mittlerweile guten Freund – André kennengelernt. Auch Andrés damalige Freundin leidet seit einer Reise in Südostasien an einem Reizdarmsyndrom. Vorher war sie komplett gesund, hat einfach etwas Falsches gegessen, erlitt daraufhin eine Magen-Darm-Infektion und leidet seitdem an der chronischen Darmerkrankung.
Dabei haben wir mit eigenen Augen gesehen, dass effektiven Reizdarmtherapien, die durch Studien als sehr vielversprechend gelten und in den neuesten Leitlinien verankert sind, immer noch nicht bei den Millionen von betroffenen Menschen in Deutschland angekommen sind. Man müsste die Betroffenen nicht nur durch Medikamente unterstützen, sondern auch mit Ernährungs-, Psycho- und Bewegungstherapien. Auf diese zusätzlichen Therapiemethoden ist das deutsche Gesundheitswesen leider noch nicht so gut ausgerichtet gewesen. Das wollten wir ändern!
Was steckt genau hinter eurer App?
Wir bieten drei Medizinprodukte, die jeweils ein indiviuelles 12-Wochen-Programm enthalten. Diese sind „Cara Care für Reizdarm“, „Care Care für Sodbrennen“ und „Cara Care für chronische Darmerkrankungen“. Eine weitere Version ist derzeit schon in Planung. Das Ziel unserer angebotenen 12-Wochen-Programme ist es, Schritt für Schritt zu einem besseren Bauchgefühl zu gelangen. Betroffene und Interessierte können zu Anfang eine große Anamnese, in Form eines Fragebogens machen, und schauen, welches Programm für die Nutzerin oder den Nutzer optimal ist. Zudem hilft die Anamnese, das Programm genau auf die Nutzerin/den Nutzer zuzuschneiden. Die beiden Bestandteile des 12-Wochen-Programms sind eine medizinische Ernährungstherapie sowie eine bauchbezogene Psychotherapie.
Mittlerweile kann die App in Deutschland auch verschrieben werden. Alle gesetzlichen und die meisten privaten Krankenversicherungen übernehmen die Kosten dieser neuen Therapiemethode. Was mich dabei am meisten fasziniert: Wir haben mittlerweile eine neue Säule in der Behandlung von chronischen Erkrankungen erschaffen. Die digitalen Therapien. Diese können direkt neben einer medikamentösen Behandlung stehen und eine gute Ergänzung darstellen und teilweise diese ganz ersetzen.
Welche Schwierigkeiten gab es seit der Gründung von Cara Care?
Wenn man ein Start-up gegründet, hat man andauernd Schwierigkeiten. Das ist Teil der ganzen Sache. (lacht). Die größten Schwierigkeiten bestanden darin, Stakeholder, Krankenkassen und auch die Ärztinnen und Ärzte von unserer Idee zu überzeugen. Zu dieser Zeit waren viele Leute noch nicht bereit für die „digitale Gesundheit“. Wir mussten noch sehr viel Überzeugungsarbeit leisten, damit die Bekanntheit und auch die Akzeptanz erhöht werden konnte. Mittlerweile hat sich dies glücklicherweise geändert. Auch durch die Resonanz der Ärztinnen und Ärzte merken wir, dass die digitalen Gesundheitstherapien mittlerweile in der Regelversorgung angekommen sind.
Wie ist der Status Quo der Entwicklung?
Wir haben noch viel vor. Derzeit haben wir drei große Themengebiete, die mit unseren 12-Wochen-Programmen abgedeckt werden. Darüber hinaus wir auch für andere Erkrankungen, innerhalb und über die Gastroenterologie hinaus, Therapieansätze entwickeln. Zudem möchten wir auch in anderen Ländern eine Akzeptanz erreichen, dass beispielsweise auch Betroffene in den USA unser Programm von Krankenversicherungen erstattet bekommen können. Hierfür haben wir auch schon eine Tochtergesellschaft in den USA gegründet, um Kontakte aufzubauen und Krankenkassen unser Konzept vorzustellen. Neben den USA sind auch Länder wie Frankreich ganz oben auf der Liste. Frankreich hat sich mittlerweile einiges an der Erstattung von digitalen Gesundheitsdiensten von Deutschland abgeschaut – da liegt es dann auch nahe, einfach über die Grenze zu gehen und unser Produkt der betroffenen Bevölkerung anzubieten.
Zusätzlich schauen wir uns auch an, wie wir Dinge, die wir in der Gastroenterologie schon machen, auch in anderen Bereichen nutzen kann. Das bedeutete, dass wir über die Gastroenterologie hinweg auch Therapien für andere Krankheitsbilder, die mit Verhaltensänderungen, Ernährung und Psychotherapie verbessert werden können, unterstützen wollen.
Wie sieht bei euch die Refinanzierung aus?
Letztendlich haben wir zwei Quellen für unsere Refinanzierung. Die erste sind die Investorinnen und Investoren, die uns geholfen haben, bis zu dem Punkt zu kommen, bei dem wir gerade sind. Dazu zählen beispielsweise der Investitionsarm des Pharmaunternehmens Johnson & Johnson. Die zweite Quelle sind die Krankenkassen, die unser verschriebenes Produkt erstatten Jede Woche werden es mehr Betroffene, die Cara Care verschrieben und erstattet bekommen. Das Geld daraus können wir dann auch für uns nutzen, um das Produkt weiterzuentwickeln oder weitere Studien durchzuführen.
Du bist Mediziner und hast im Studium wenig bis kaum Know-how zum Unternehmertum sammeln können. Was konntest du und dein Co-Gründer für die Gründung des Start-ups mitbringen?
Eine Sache, die wir gemeinsame haben – und wichtig für jeden Gründer ist – ist den Mut zu haben, Dinge zu hinterfragen. Es ist nicht verkehrt sich die Frage zu stellen, ob alles, wie es gerade in einer Klinik oder einer Arztpraxis läuft, auch wirklich so laufen muss. Kann es vielleicht verbessert werden? Probleme, auf die man in seinem Klinik- oder Praxisalltag trifft, sollten nicht einfach hingenommen werden, sondern erforscht und verändert werden. Aus Problemen Opportunitäten machen: das können André und ich gut.
Aber auch insgesamt ist Mut wichtig. Viele bleiben durch Risikoaversionen lieber im sicheren Hafen und gehen die vorgezeichnete Karrierestraße einfach weiter. Auch ich habe einige Freunde, die in einer Klinik oder Praxis geblieben sind, aber gar nicht so glücklich damit sind. Viele davon hätten das Zeug für einen Wechsel in das Unternehmertum. Da fehlt einfach der Mut, ins kalte Wasser zu springen und das Unbekannte zu erforschen. Ganz verübeln kann man es ihnen nicht, denn teilweise weiß man gar nicht, wie die kommende Woche aussieht (lacht).
Auch schnelles Lernen hat uns bei der Gründung und dem Aufbau von CaraCare geholfen. Im Medizinstudium lernt man natürlich nicht, wie man ein Unternehmen gründet. Das Lernen von wirtschaftlichem Know-how ist auch ganz anders. Man lernt durch die sich auftürmenden Probleme, für die man sich schnell die benötigten Skills und Fähigkeiten aneignet. Und im Zweifel, wenn man es nicht kann, muss man sich die passenden Leute mit ins Boot holen.
Alleine kann man große Visionen einfach nicht stemmen. Deshalb ist es wichtig im Umgang mit Menschen sicher zu sein und diesen zu mögen. Man muss andere Leute begeistern und mitreißen können, um dann auch ein gutes Team aufbauen zu können.
Jesaja Brinkmann is the co-founder and co-CEO of Cara Care, a Berlin-based digital health company that empowers people with chronic digestive diseases to enjoy a healthier, happier life. In 2021 he was a honoree on the European Forbes 30 under 30 list in healthcare. Cara Care for IBS is the first digital therapy for gastrointestinal issues that is prescribable and fully reimbursed by all public insurances in Germany. Outside of his work at Cara Care, he serves on the Board of Directors at Aignostics, which provides AI-powered precision diagnostics for pathology and is a member of the advisory board of not less but better (nlbb), a behavioral health company that fights smartphone addiction. Jesaja studied philosophy and medicine at the University of Würzburg and Hamburg and conducted research in the field of lung cancer screening at MGH / Harvard Medical School in Boston.
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