Während meiner Studienzeit, waren es die Männer, die in den Lehrbüchern abgebildet waren, und auch in Pharmakologie fiel uns schnell auf, dass Arzneimittel vor allem an Männern getestet worden sind. In der Medizin galt der männliche Körper jahrelang als die Norm. Ist der weibliche Körper mit seinem Zyklus und dem Hormonhaushalt zu komplex für die Forschung?
Die Gleichbehandlung von Frauen und Männern ist gesellschaftlich notwendig, in der Medizin kann sie jedoch auch gefährlich sein, denn die biologischen und hormonellen Unterschiede zwischen Mann und Frau prägen nicht nur Krankheitsverläufe, sondern beispielsweise auch die Wirkungen und Nebenwirkungen von Medikamenten sowie Therapieansätzen. Sie erforscht vor allem die biologischen und psychosozialen Unterschiede zwischen Männern und Frauen, und zum Beispiel welchen Einfluss die Größe, das Gewicht, das Geschlecht oder aber die Hormone auf bestimmte Krankheiten haben.
Im Gesundheitswesen und in der Wissenschaft werden geschlechtersensible Unterschiede vernachlässigt, wenn es beispielsweise um die Behandlungen von Patient:innen geht. Folglich besteht die Gefahr, falsche Diagnosen zu stellen und falsche Therapieverfahren einzuleiten. Ein klassisches Beispiel aus der Herzmedizin: Frauen können im Falle eines Herzinfarktes ganz andere Symptome zeigen, als Männer. Während Männer meist über die „klassisch“ bekannten Herzinfarktsymptome, wie Brustschmerzen klagen, klagen Frauen eher über unspezifische Symptome, wie Übelkeit, Schmerzen zwischen den Schulterblättern, Oberbauchschmerzen oder etwa anderen vegetativen Symptomen. Aufgrund der unspezifischen Symptomatik werden Herzinfarkte bei Frauen daher oft später erkannt. In der Folge sterben Frauen häufiger an einem Infarkt, der nach wie vor als typische „Männerkrankheit“ gilt. Die geringe Sensibilität dafür, dass beide Geschlechter unterschiedliche Symptome aufweisen, ist ein Grund dafür, dass Frauen oftmals nicht adäquat versorgt sind.
Auch wenn Frauen (4/100.000) also seltener einen Herzinfarkt als Männer haben (6/100.000), so zeigt das Herzinfarktregister, dass Herzinfarkte bei Frauen häufiger tödlich verlaufen. Ein Grund dafür sind die zahlreichen geschlechterspezifischen Unterschiede zwischen Männern und Frauen, und dennoch gilt der Mann innerhalb der Medizin weitgehend als „Prototyp“.
„Frage nach Gerechtigkeit?”
Seit 2015 wird im fünften Buch des Sozialgesetzbuches „die Beachtung geschlechtsspezifischer Besonderheiten für Krankenkassenleistungen“ gefordert. Vor allem das Gesundheitswesen muss sich also stärker mit dem Thema Geschlechtermedizin auseinandersetzen, erste Schritte sind zumindest bereits gemacht. Doch der Fokus sollte nicht nur auf das biologische Geschlecht gelegt worden, sondern psychosoziale und gesellschaftliche Unterschiede, sowie die verschiedenen Rollenbilder innerhalb der Gesellschaft mit einbezogen werden.
Immerhin beschreibt der Begriff „Gender“ nicht nur biologische Faktoren, sondern auch die psychosozialen Aspekte. Auch geht es bei Gendermedizin sicherlich um die Frage nach Gerechtigkeit, so dürfen Frauen zukünftig in Arzneimittelstudien nicht unterrepräsentiert sein. Gendermedizin ist zwar keine Frauenmedizin, jedoch hat diese sogenannte Unterrepräsentation von Frauen in Pharmastudien in der Vergangenheit dazu geführt, dass Nebenwirkungen bei Frauen teilweise unerforscht blieben. Aber: Frauen leiden meist doppelt so häufig an Nebenwirkungen wie Männer, und dies kann die Folge unangemessener Dosierungen von Medikamenten sein. Dank einer neuen EU-Richtlinie ist die Geschlechterverteilung in klinischen Studien zukünftig danach zu beurteilen, inwiefern sie die Geschlechterverteilung in der Bevölkerung abbildet. Wenn sich ein Medikament also vermehrt an Frauen richtet, dann sollen eben auch mehr Frauen „getestet“ werden.
„Wir brauchen ein Umdenken“
Gendermedizin sollte für mehr „Awareness“ sorgen und zwar bei Männern und bei Frauen. Der Zugang zur gendergerechten medizinischen Versorgung und Behandlung sollte für beide Geschlechter verbessert werden. Seit 2016 ist der weibliche Herzinfarkt mit den spezifischen Symptomen in die Nationalen Leitlinien aufgenommen worden. Trotzdem sollten gezielte Förderungen von Forschung im Bereich Gendermedizin erfolgen. Nicht zuletzt sollte das Curriculum der heutigen Medizinstudierenden angepasst werden und Gendermedizin fester Bestandteil der Ausbildung werden. Eine gendersensible medizinische Ausbildung ist erforderlich, um geschlechtsspezifische Unterschiede optimal zu behandeln.
Und, wer weiß, vielleicht gibt es in ein paar Jahren im Prometheus Bildatlas zur Abwechslung auch mal ein paar Bilder mehr vom weiblichen Körper. Denn Gendermedizin führt gleichzeitig auch zur ungleichen Betrachtung und Behandlung von Patient:innen. Und Ungleichheit ist gut für uns alle! Und wer jetzt immer noch denkt, Gendermedizin sei feministisch: Nein, mit einer gendergerechten Behandlung und Forschung soll die Medizin für beide Geschlechter verbessert werden und dieses Wissen kann Leben retten.
Dr. Viyan Sido ist Fachärztin für Herzchirurgie und Leiterin der Hochschulambulanz für geschlechterspezifische Herzmedizin und Frauensprechstunde am Herzzentrum Brandenburg. Sie war bis 2021 Vorsitzende des Jungen Forums des Deutschen Ärztinnenbundes und des Menschenrechtsausschusses der Berliner Ärztekammer. Seit kurzem ist sie Mitglied im Beirat für geschlechtersensible Medizin der Universität Bielefeld. Sie hat gerade ihnen Master im Fach Public Health beendet. In ihrer Masterarbeit beschäftigt sie sich ebenfalls mit dem Thema Gendermedizin.
Ähnliche Essays zum Thema Diversität in der Medizin finden Sie unter dem hinterlegten Link.