Dr. Paula Piechotta hat bis 2021 als Fachärztin an der Uniklinik Leipzig gearbeitet, bis sie nach der letzten Bundestagswahl für die Grünen in den Bundestag eingezogen ist. Welche Ziele in der Gesundheitspolitik verfolgt sie als junge Abgeordnete, die dank ihrer Erfahrungen als Ärztin das Gesundheitswesen in all seinen Schattierungen kennt?
Sie sind neu im Bundestag und gehören als Ärztin genau der Zielgruppe an, die man ins Boot holen muss, wenn man erfolgreiche Gesundheitspolitik machen möchte. Welche Ziele haben Sie sich persönlich auf die Agenda gesetzt?
Ich komme ja selber direkt aus dem Gesundheitswesen und habe bis zum Einzug in den Bundestag in der Klinik gearbeitet. Wenn man direkt aus diesem System kommt, ist es noch sehr präsent, wie schlecht die Arbeitsbedingungen für das Personal sind. Bessere Patientenversorgung gibt es nur mit besseren Arbeitsbedingungen. Ich denke, jeder Gesundheitspolitiker möchte das System patientenfreundlicher und resilienter machen und dabei gleichzeitig auch die Arbeitsbedingungen verbessern. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass dies in der jetzigen Situation besonders schwierig ist, weil wir mit einem drastischen Fachkräftemangel sowie hohen Milliarden-Defiziten zu kämpfen haben.
Haben Sie denn das Gefühl, heute einen höheren Einfluss auf die Patientengesundheit zu haben als einst als Ärztin?
Ja, das glaube ich. Als Ärztin im Krankenhaus habe ich einen unmittelbaren Einfluss auf die Gesundheit des Patienten, der gerade unmittelbar vor mir sitzt. Im Bundestag entscheide ich über ein Gesundheitssystem mit, welches die Versorgung von 80 Millionen Menschen gewähr- leisten muss – und um die Arbeitsbedingungen der Beschäftigten. Schließlich arbeiten fast 10 Prozent der Beschäftigten direkt oder indirekt für das Gesundheitswesen.
Was war einst eigentlich Ihre Motivation, in die Politik zu gehen?
Mit 19 Jahren habe ich einen Familienangehörigen häuslich gepflegt. Dabei musste ich feststellen, wie stark das Gesundheitssystem Familien mit pflegebedürftigen Angehörigen alleine lässt – und wie schlecht oft die Versorgung und Unterstützung ist. Diese einschneidenden Erfahrungen waren auch der Grund, warum ich Medizin studiert habe.
So gerne ich als Ärztin gearbeitet habe, musste ich trotzdem feststellen, dass ich als einzelnes Zahnrädchen im Getriebe des Gesundheitssystems niemals wirklich auf notwendige Verbesserungen Einfluss nehmen kann. Diese Erkenntnis war der ausschlaggebende Punkt, auch politisch aktiv zu werden – denn am Ende muss fast alles, was an Verbesserungen im Gesundheitswesen in diesem Land passieren soll, an irgendeinem Punkt Parteien und Parlamente passieren, bevor es Realität werden kann.
Sie setzen sich sowohl für bessere Hygienekonzepte in Krankenhäusern als auch für die Reduktion von Feinstaub oder Lärmbelastung für die Bürger ein. Muss man sich als Politiker:in solchen Mikrothemen suchen, weil der Einfluss auf das „Big Picture” am Ende gar nicht groß sein kann?
Ich würde eher sagen, es ist anders herum, denn man muss oft viele, sehr große Entscheidungen treffen, riesige Finanzlöcher schließen, Fachkräftemangel angehen, hinter denen diese kleineren, konkreteren Themen manchmal verschwinden können.
Zum Beispiel mussten wir aktuell mit dem Haushaltsausschuss mitentscheiden, wie viele Milliarden aus dem Steuerhaushalt ans Gesundheitswesen fließen, damit die Beträge für die Versicherten nicht zu stark ansteigen. Wenn man es dann aber nicht vergisst, über grundlegende Gesundheitsbelastungen durch Feinstaub und Lärm zu sprechen, kann man damit dazu beitragen, dass die größeren Zusammenhänge von gesundem Leben und der Prävention von Erkrankungen auch stärker in der politischen Debatte ankommen.
Lärm ist dabei ein sehr gutes Beispiel: Menschen, die jahrzehntelang an lauten Straßen wohnen, haben ein erhöhtes kardiovaskuläres Risiko, welches dann zu Herzinfarkten oder Schlaganfällen führen kann und in unseren Klinken behandelt werden muss. Deswegen ist Lärmreduktion auch Gesundheitspolitik.
Auch das Thema Krankenhauskeime liegt Ihnen am Herzen.
Absolut. Denn wir haben sehr viele Infektionen mit Krankenhauskeimen, die vermeidbar wären – nicht alle, aber viele. Dabei lohnt sich auch der Blick über den Tellerrand. Beispielsweise können wir einiges von dem Gesundheitssystem der Niederlande lernen, die in der Präventionsarbeit gegen multiresistente Keime oft wesentlich weiter sind als wir.
Auf der einen Seite ist unser Gesundheitssystem mit hohen Finanzmitteln ausgestattet. Auf der anderen Seite klagen Mitarbeiter des Gesundheitswesens über dauerhafte personelle Überlastung, Krankenhäuser sind chronisch defizitär und Patienten fehlt es in manchen Regionen an niedergelassenen Ärzten. Was läuft da falsch?
Ich bin tatsächlich nicht der Meinung, dass grundsätzlich zu wenig Geld in unser Gesundheitswesen fließt – sondern es fließt zu oft für die falschen Dinge. Wir heben die Potentiale der Digitalisierung nur unzureichend, verschwenden viel Energie in schlecht organisierten Prozessen und vieles andere mehr. Wir haben zum Beispiel eine Krankenhauslandschaft mit sehr vielen Klinikbetten, aber nicht immer der besten Behandlungsqualität am einzelnen Bett.
Wir wollen jetzt die Krankenhauslandschaft reformieren, unter anderem mit einer stärkeren Zentrumsbildung. Das kann auch dabei helfen, dass wir das Fachpersonal dort konzentrieren, wo stabile Teams aufgebaut werden können, die auch am Wochenende und in Urlaubszeiten so aufgestellt sind, dass die Behandlungsqualität gesichert ist. Dadurch wiederum würden auch die allgemeinen Arbeitsbedingungen besser werden, da wir uns nicht mehr mit einer permanenten personellen Mängelverwaltung konfrontiert sehen. Und natürlich müssen wir das Gesundheitswesen jetzt endlich umfassend digitalisieren.
Können Sie uns Beispiele nennen, wo Sie ansetzen möchten?
Es gibt bereits Positivbeispiele für eine gelungene Digitalisierung, etwa in der Schlaganfallversorgung mittels Teleneurologie und Teleradiologie, die uns helfen, Spezialistenwissen in der Medizin nicht nur in großen Zentren anzubieten, sondern auch in der Breite. Wenn es schnell gehen muss und kein schlaganfallerfahrener Neurologe vor Ort ist, können wir auch Patienten außerhalb der Ballungsräume dank digitaler Tools mit höherer Qualität behandeln. Auch in der Corona-Pandemie haben wir gesehen, dass ambulante Besuche oft auch digital funktionieren. Das muss unser Gradmesser für die Zukunft sein. Denken Sie dabei nur an die Erleichterung für Menschen, die nicht mehr so mobil sind.
Wenn man sich die Aussagen der Deutschen Krankenhausgesellschaft aus diesem Jahr anschaut, werden die Töne dort immer schriller. „Bittere Enttäuschung“ und „Fassungslosigkeit“ über die Bund-Länder-Runde herrschen dort, zudem die „Krankenhäuser würden keine Daten-Utopien der Politik bedienen können“, generell wird die „Alarmstufe Rot“ für die Krankenhäuser ausgerufen. Können Sie die Verbitterung der Krankenhäuser nachvollziehen?
Wenn ich vor Ort in den verschiedenen Kliniken bin, reden wir ganz anders miteinander, viel vertrauensvoller. Da geht es einfach darum, konkret vor Ort die Versorgungslage zu sichern, Reformen anzuschieben und diese bestmöglich umzusetzen. Natürlich: Dort, wo es wirklich nicht funktioniert, muss es immer möglich sein, Bedenken und Kritik zu äußern. Vertreter wie die deutsche Krankenhausgesellschaft, die in Berlin die Politik mit beeinflussen möchte, wollen sich Gehör verschaffen mit ihren Äußerungen. Man sollte dabei aber nicht übertreiben, das schadet am Ende nur der eigenen Glaubwürdigkeit.
Das Stichwort „Politikbeeinflussung“ aufgreifend: In kaum einem anderen Bereich gibt es derart starke Lobbygruppen wie im Gesundheitswesen – welche Erfahrungen haben Sie damit gemacht?
Neben der Gesundheitspolitik bin ich auch für den Verkehrshaushalt des Bundes. Auch im Verkehrsbereich gibt es natürlich Lobbyistinnen. Ich persönlich wurde aber beispielsweise noch nie von Vertretern eines Verkehrsunternehmens um 0:30 Uhr beim Check-in im Hotel abgefangen. Es haben auch noch nie Vertreter eines Verkehrsunternehmens versucht, meine studentischen Mitarbeiter zum Kennenlernen in Restaurants einzuladen.
Und es war auch noch nie so, dass die Vertreter eines Verkehrsunternehmens mein Büro eine Woche lang gelähmt hätten mit unablässigen Telefonanrufen. Soviel dazu.
Gesundheitsminister Lauterbach ist einer der bekanntesten Politiker des Landes. Gleichzeitig besteht die Regierung aus einer Koalition von drei Parteien. Wo sehen Sie aus Sicht der Grünen die größten Überschneidungen zu den Positionen der anderen beiden Parteien und wo die deutlichsten Differenzen?
Das Schöne an der Gesundheitspolitik ist, dass sie oft nicht ganz so konfliktbehaftet ist wie andere Politikbereiche. Die Aufgabenbereiche sind derart umfangreich, dass man auch über die Fraktionszentren hinaus bis hin zur Opposition konstruktiv miteinander reden kann. Das ist auch gut so, denn am Ende geht es um das Wohl der Patient:innen und Mitarbeiter:innen des Gesundheitswesens.
Ich habe das Gefühl, dass sich die drei Regierungsparteien in der Perspektive, wohin sich das Gesundheitswesen entwickeln soll, relativ einig sind. Da spüre ich tatsächlich einen breiten Konsens. Wenn es Unterschiede gibt, dann vor allem in der Frage der Finanzierung des Gesundheitswesens. Bei der Frage zur Einführung einer Bürgerversicherung beispielsweise gehen die Meinungen zwischen Grünen, SPD und FDP bekannter- maßen sehr weit auseinander.
Wo sehen Sie heute die größten Ungerechtigkeiten im Gesundheitssystem?
In meinen Augen ist die größte Ungerechtigkeit, dass Patienten, wenn sie am stärksten auf das Gesundheitswesen angewiesen sind, also die, die sehr schwer krank sind, vielleicht auch noch wenige Angehörige haben – dass das die Patienten sind, die am wenigsten ihre Rechte im Gesundheitswesen einfordern können. Deswegen ist es oft eine Gefahr, dass die Patienten, die am hilfsbedürftigsten sind, nicht immer alle Unterstützung bekommen, die sie brauchen. Wir müssen deshalb alles dafür tun, die Behandlungsrechte auch der Schwächsten zu stärken.
Die Radiologin Paula Piechotta wurde 1986 in Gera geboren und ist seit 2010 Mitglied der Grünen.
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