Professor Dr. Jochen A. Werner ist wie kaum ein Zweiter profunder Kenner der deutschen Kliniklandschaft – als Arzt, aber auch als Manager und digitaler Visionär. Das von ihm an der Uniklinik Essen initierte Smart Hospital gilt vielen als Blaupause für die intelligente Transformation eines Krankenhauses zu einer neuen Ausrichtung der Medizin. Im Gespräch erläutert er, warum ein Reboot des gesamten Gesundheitssystems nötig sei – und er große Zweifel an der dafür notwendigen Veränderungsbereitschaft habe.
Sie haben mit „So krank ist das Krankenhaus“ ein Buch geschrieben, welches bereits im Untertitel mehr Menschlichkeit fordert. Was an unseren Krankenhäusern ist unmenschlich?
An unseren Krankenhäusern ist nichts unmenschlich. Nahezu alle geben ihr Bestes. Aber wir verschenken signifikant Potenzial für noch mehr Menschlichkeit durch schlechte Prozesse und ineffiziente Strukturen, vor allem aber durch mangelnde Digitalisierung. Diese Situation wird nun noch zunehmend verschärft durch den Mangel an qualifiziertem Personal, speziell in der Pflege.
Wenn wir also unsere Krankenhäuser menschlicher machen wollen, müssen wir genau hier ansetzen. Nicht an der hohen Motivation der Beschäftigten. Sondern an einer Konzentration des Personals an weniger Standorten, weniger Krankenhausbetten, mehr ambulanter statt stationärer Behandlungen und mehr Digitalisierung zur Entlastung der Beschäftigten.
Ihre zweite Forderung ist die nach mehr Qualität. An welchen Stellen wird sichtbar, dass sie fehlt?
Die einzelnen medizinischen Fachgebiete entwickeln sich rasant, und die Qualität ist hervorragend. Was aber fehlt, sind übergreifendes Denken und systemische Fortschritte. Wir müssen uns von der Einzel- betrachtung lösen, wie sie leider in den Köpfen vieler Beschäftigten und auch vieler guter Mediziner in der alleinigen Konzentration auf ihr Fach noch vorhanden ist.
Es geht mir darum, dass die medizinische Versorgung besser sein könnte, wenn wir einen reibungslosen Datenaustauch und eine bessere Vernetzung zwischen allen Beteiligten im Gesundheitssystem hätten. Wenn wir das nicht schaffen, werden wir über kurz oder lang auch Einbußen bei der Qualität der Versorgung in Kauf nehmen müssen. Denn die Qualität der Medizin von morgen wird sich entscheidend danach bemessen, wie gut wir in der Lage sind, Daten auszutauschen, auszuwerten und sie in die Vorsorge, Diagnose und Behandlung mit einzubeziehen.
Welche Grundlagen müssen sich verändern, damit diese von Ihnen erwähnte Qualität erreicht wird – und welchen Spielraum hat das einzelne Haus dabei, diese anzustreben?
Es braucht ein vernetztes System, in dem alle relevanten Daten zu einem Patienten und seiner Krankengeschichte ohne Reibungsverluste ausgetauscht werden können. Und das zwischen allen, die an der Gesundung und zunehmend auch der Prävention beteiligt sind. Der dafür erforderliche Spielraum wird aktuell noch durch den Datenschutz und die fehlende digitale Infrastruktur massiv eingeschränkt. Beides sind für die Medizin, aber auch die Gesellschaft insgesamt, stark limitierende Faktoren. Diese Defizite dürfen aber keine Ausrede und die Legitimierung des Nichts-Tuns sein. An der Universitätsmedizin Essen arbeiten wir zum Beispiel schon seit Jahren mit einer standortübergreifenden elektronischen Patientenakte, die spürbare Entlastung der Beschäftigten, mehr Patientensicherheit und auch mehr Datenschutz durch exakt zugewiesene Zugriffsrechte bringt. Transformation ist originäre Führungsaufgabe – insofern entscheidet am Ende das Management jedes Hauses für sich, inwieweit es die Digitalisierung vorantreibt.
Sie sprechen die Verantwortung des Managements an: Trügt der Eindruck, dass eine fehlende Veränderungsbereitschaft in Krankenhäusern oftmals daher rührt, dass Entscheidungsträger mit dem fehlenden großen Wurf durch die Politik die eigene „ruhige Hand“ legitimieren?
Genau das ist häufig auch mein Eindruck. Wir haben es in der Gesundheitsversorgung mit einem stark planwirtschaftlich ausgerichteten System zu tun. Dieser Charakter des Gesundheitssystems färbt logischerweise auch auf die handelnden Personen und ihre Geisteshaltung ab. Das soll gar kein Vorwurf sein. Ich habe große Hochachtung davor, unter welchen schwierigen Rahmenbedingungen und mit welch begrenztem unternehmerischem Instrumentarium gerade aufgrund der planwirtschaftlichen Strukturen gearbeitet werden muss. Ich möchte damit nur sagen, dass es sich um ein systemimmanentes Problem handelt. Das hängt auch damit zusammen, dass es – anders als in der Industrie – kaum gedanklichen und auch personellen Austausch mit anderen Branchen und damit auch anderen Märkten und Denkweisen gibt. Der Wille zur Veränderung – essentiell für den Erfolg in der freien Wirtschaft – ist im Gesundheitswesen nicht ausreichend ausgeprägt. Stattdessen herrschen eine starke Verwaltungsmentalität und der Hang zur Bewahrung des Status Quo vor.
Sie widmen ein Kapitel dem Finanzierungsdebakel. Welche Lösungswege sehen Sie?
Dazu könnte man mehr als nur ein Kapitel, sondern ein ganzes Buch schreiben. Die Gesamt-Ausgaben des Gesundheitssystems betrugen 2020 die unfassbare Summe von 440 Mrd. Euro, also beinahe eine halbe Billion Euro. Es fehlt also nicht an Geld, es fehlt an Effizienz. Das System trägt sich zudem nicht mehr selbst durch die Beiträge der Versicherten, sondern nur durch fast 70 Mrd. Euro staatliche Transferzahlungen. Hier steuern wir auf eine gigantische Schieflage zu, die zu meinem Erstaunen – anders als in der Rentenversicherung – in der Öffentlichkeit noch kaum wahrgenommen wird. Um es kurz zu machen: Der demografische Wandel trifft die Gesundheitsversorgung ganz besonders. Wir werden zukünftig mehr Menschen mit weniger Personal und Ressourcen versorgen müssen. Das lässt sich nicht mehr auflösen, wohl aber müssen wir ein bestmögliches Management anstreben.
Langfristig wird uns das nicht ohne die Digitalisierung gelingen. Kurzfristig müssen wir Synergien heben und die Effizienz signifikant steigern, etwa durch eine bessere Vernetzung der Leistungserbringer und die Neugestaltung der Krankenhauslandschaft. Dazu gehört auch, Kliniken im Rahmen eines Masterplans zu schließen, zusammenzulegen oder in ambulante Versorgungszentren umzuwidmen.
An welchen Stellen stoßen Sie mit Ihrer Überzeugungsarbeit für das Smart Hospital auf die massivsten Bedenken?
Immer dann, wenn Menschen ihre Pfründe in Gefahr sehen und sich in ihrer Position bedroht fühlen, sind die Widerstände am größten. Das ist menschlich absolut nachvollziehbar und natürlich nicht nur ein Thema in der Medizin. An der Universitätsmedizin Essen haben wir uns deshalb ganz bewusst dazu entschieden, einen Schwerpunkt unserer Digitalisierungsstrategie auf die Kommunikation unserer Maßnahmen zu legen. Wir haben von Beginn an immer wieder die positive Wirkung der Digitalisierung im Allgemeinen, aber eben auch Vorteile für den Einzelnen kommuniziert, sodass auch Skeptiker den persönlichen Nutzen für sich erkennen konnten. Der Erfolg gibt uns Recht, sonst wären wir wohl nicht so weit gekommen.
Sie plädieren nicht nur für neue Digitalisierungsstrategien, sondern auch für einen neuen Anspruch an Nachhaltigkeit in der Medizin.
Richtig. Allein in Deutschland entfallen laut Health Care Without Harms 5,2 Prozent der gesamten Emissionen auf das Gesundheitswesen. Damit trägt es erheblich zur Umweltbelastung bei, weltweit sogar mehr als der Flugverkehr oder die Schifffahrt. Es sind also nicht nur die „üblichen Verdächtigen“, die zum Klimawandel beitragen, die energieintensiven Industrien, sondern auch wir in der Medizin, und zwar in einem relevanten Ausmaß. Diese Erkenntnis muss sich im Gesundheitswesen noch durchsetzen. Daraus ergibt sich eine Verantwortung als Emittent, aber auch aus dem Grundgedanken der Medizin heraus, für die Gesundheit der Menschen zu sorgen. Noch stehen wir mit dem Thema Green Hospital am Anfang eines langen Weges. Das nachhaltige Krankenhaus als integraler Bestandteil einer zunehmend dekarbonisierten Gesellschaft ist aber ohne Alternative, denn nur in einer gesunden Umwelt können Menschen gesund leben.
Viele der Kritikpunkte, die Sie benennen, sind in anderen Wirtschaftszweigen schon lange Standard, etwa Customer Centricity. Warum beginnt man in vielen Krankenhäusern so zögerlich damit, von den Patientinnen und Patienten aus zu denken?
Weil man es bisher nicht musste. Und auch, weil alles, was über die originäre Krankenversorgung hinausgeht, nicht bezahlt wird. Die Maschinerie Krankenhaus, die ich immer gerne mit einem Paternoster vergleiche, weil sie häufig um sich selbst kreist, hat ja bislang zumindest im Selbstverständnis passabel funktioniert. Der Patient ist hier eben noch der „Geduldige“ und nicht der Kunde. Immerhin beginnt zögerlich ein Umdenken, auch vor dem Hintergrund der sich verändernden Rahmenbedingungen und der Ahnung, dass Customer Centricity auch in der Gesundheitswirtschaft für den Geschäftserfolg zunehmend wichtiger werden wird. Die niedergelassenen Ärzte und viele Serviceeinrichtungen sind diesbezüglich übrigens schon deutlich weiter als die meisten Kliniken. In Essen haben wir bereits vor vielen Jahren ein Institut für Patientenerleben gegründet, weil es mit dem Anspruch des menschenzentrierten „Smart Hospitals“ unerlässlich ist, Prozesse aus der Sicht von Patienten sowie deren Angehörigen zu sehen, zu analysieren und zu verbessern.
Wenn ich Manager in der Industrie bin, muss ich mich permanent mit den Bedürfnissen und Anforderungen meiner privaten oder gewerblichen Kunden beschäftigen, vor allem auch damit, welche Bedürfnisse diese Kunden in fünf oder zehn Jahren haben werden, sonst verschwinde ich vom Markt. Gleichzeitig muss ich meine Lieferanten und deren Branchen im Auge haben, um auch hier alle Entwicklungen zu erkennen, die mein Geschäft betreffen. Dieses Denken in Wertschöpfungsketten mit ihrer Dynamik, dieser übergreifende Blick über den Tellerrand fehlt in der Medizin.
Wenn wir an dieser Stelle den Blick auf das Patienten-zentrierte Haus schärfen: Wenn Sie die aus Ihrer Sicht wichtigste Handlungsempfehlung nennen müssten, welche wäre das?
Ich würde vor allem einen Schritt weiter gehen: Wir wollen nicht nur ein Patienten-zentriertes Haus, wir wollen ein Mensch-zentriertes Haus. Es geht nicht nur um den Patienten oder die Patientin, sondern darum, den Mensch konsequent in den Mittelpunkt des Handelns zu stellen – also gleichermaßen auch die Mitarbeitenden. Mitarbeiter- und Patienten-Orientierung gehen Hand in Hand, beide Ziele sind untrennbar miteinander verbunden. Alle Prozesse müssen vom Menschen her gedacht werden. Dies ist die zentrale unternehmerische Ausrichtung, nicht nur die Fokussierung auf den Patienten. Denn am Ende ist es doch so: Je zufriedener und besser die Mitarbeitenden sind, desto besser geht es auch den Patientinnen und Patienten.
Die Digitalisierung ist so etwas wie ein Lebensthema für Sie. Nun sind Sie nicht als Digital Native auf die Welt gekommen. Was fasziniert Sie im Kontext von Krankenhäusern daran so sehr und gab es initiale Punkte in Ihrem Leben, die Sie auf diesem Weg sehr inspiriert haben?
Es sind vor allem meine eigenen Erfahrungen während der vergangenen 40 Jahre im Krankenhaus. So sehr man sich auch bemüht hat, am Ende blieb aufgrund des Zeitmangels und des zunehmenden Drucks immer ein wenig die Menschlichkeit auf der Strecke. Wir verschenken wertvolle Zeit an der falschen Stelle, zum Beispiel für administrative Tätigkeiten, die mithilfe digitaler Systeme schneller und einfacher erledigt werden könnten. Hinzu kommt das enorme Potential, das Künstliche Intelligenz bietet, um Diagnostik und Therapie zu verbessern. Ich habe die Defizite und Potenziale früh erkannt, bin aber als Arzt und selbst als Klinikleiter an Grenzen gestoßen, weil ich eben kaum Einfluss nehmen konnte auf die etablierten häufig anachronistischen Prozesse in einer Klinik. Deshalb habe ich mich schließlich entschieden, ins Krankenhausmanagement zu wechseln. Hier kann ich Prozesse gestalten und verbessern, und hier kann ich Digitalisierung zum Wohle der Menschen einsetzen. Denn darum genau geht es: Nicht um die Daten, sondern um die Menschen.
Wenn Sie eine Vision von einem Gesundheitssystem in Deutschland in 10 Jahren entwickeln: An welchen Punkten unterscheidet sich dieses am gravierendsten vom Status Quo?
An fast allen zentralen Punkten. Seit Jahren werden immer wieder einzelne Maßnahmen ergriffen, es wird mehr oder weniger am System und seinen Fehlfunktionen herumgedoktert. Diese ganze Kosmetik nutzt aber nichts. Wir brauchen eine grundlegende Neuausrichtung des Gesundheitssystems samt der Kliniklandschaft mit effizienterer Struktur, datengestützter Vernetzung zwischen den Leistungserbringern, weniger Kliniken und wahrscheinlich auch eine neue Abrechnungsgrundlage außerhalb des DRG-Systems.
Wir brauchen einen Reboot. Nur so lassen sich zukünftig der Pflegenotstand und die Finanzierung des Gesundheitssystems – die beiden großen zentralen Zukunftsaufgaben – managen. Dazu dürfen Entscheidungen für das „Gemeinwesen Gesundheitssystem“ nicht mehr länger von Partikularinteressen und der Tagespolitik getrieben sein. Ich sage aber auch ganz klar: Ich bin überaus skeptisch, ob uns dies gelingt, denn ich sehe aktuell keinerlei Dynamik und grundlegende Veränderungsbereitschaft im Gesundheitssystem.
Professor Jochen A. Werner, geboren in Flensburg, studierte Medizin an der Universität Kiel. 1987 promovierte er und begann seine Tätigkeit als Arzt und Wissenschaftler der Abteilung für Hals-Nasen-Ohr- en-Heilkunde des Universitätsklinikums Kiel. 1998 wurde Dr. Werner Professor und Direktor der Marburger Universitäts-HNO-Klinik und war von 2004 bis 2006 auch Prodekan der Medizinischen Fakultät. Von 2011 bis 2015 war Prof. Werner hauptamtlicher Ärztlicher Geschäftsführer der Universitätsklinik Gießen und Marburg (UKGM GmbH). Zudem belegte er das Amt des Sprechers vom Medical Board der Rhön Klinikum AG, 5.000 Betten und einen sehr großen ambulanten Sektor umfassend. Seit 2015 widmet sich Prof. Werner, in seiner Funktion als Ärztlicher Direktor und Vorstandsvorsitzender, der Digitalisierung der Medizin und hat die Universitätsmedizin Essen auf den Weg zum Smart Hospital gebracht. Sein Buch „So krank ist das Krankenhaus” ist im September 2022 erschienen.
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