Dr. med. Lilian Rettegi hat 2016 ihr Medizinstudium an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg abgeschlossen. Für sie ist die Medizin eine große Leidenschaft, doch an manchen Stellen kann der berufliche Alltag eines Arztes / einer Ärztin erleichtert werden. Aus diesem Grund gründete sie mit zwei Partnern im Jahr 2016 des E-Health-Unternehmen Tomes und entwickelt die Software Idana – eine digitale Technologie, die Informationslücke zwischen Arzt und Patient schließt und so eine personalisierte, datenbasierte und unbürokratische Medizin ermöglicht. Wir haben mit ihr über ihren Werdegang, das Start-up und ihren privaten Ausgleich zum turbulenten Arbeitsalltag gesprochen.
Frau Dr. Rettegi, was hat Sie dazu bewegt, Humanmedizin zu studieren?
Ich bin mit der Medizin aufgewachsen. Meine Eltern sind beide Hausärzte, die zusammen eine Gemeinschaftspraxis führen. Ich war schon als Kind immer wieder in der Praxis, habe dort Praktika absolviert und ausgeholfen. Am Mittagstisch wurde sich viel beschwert über den Arbeitsalltag, insbesondere über die Bürokratie und den abrechnungstechnischen Rahmen, in den niedergelassene Ärztinnen und Ärzte gepresst werden. Aber trotz dieser Widrigkeiten habe ich immer gemerkt: Meine Eltern lieben die Medizin. Eine gute Patientenversorgung geht für sie über alles und trifft auf große Dankbarkeit bei den Patientinnen und Patienten, die meist jahrelang, sogar generationenübergreifend ihre Praxis aufsuchen. Für mich war die Medizin der schönste und sinnhafteste Beruf, den ich mir vorstellen konnte.
Lange haben Sie nicht aktiv praktiziert, sondern Sie wechselten die Branche und sind nun als Unternehmerin tätig. War das schon immer Ihr Plan? Wie kam es dazu?
Dass ich heute Gründerin und Geschäftsführerin einer Firma mit über 30 Mitarbeitenden bin, war ganz und gar nicht geplant. Ich studierte Medizin, um Medizin zu praktizieren. Ich habe die Patientenversorgung sehr gerne gemacht, manuelle ärztliche Tätigkeiten, kleinere Operationen, aber auch die Patientengespräche haben mir viel Spaß gemacht. Aber natürlich nicht nur: Nacht-, Wochenenddienste, Überstunden, hierarchische Strukturen, Ellbogenmentalität, unnötige Bürokratie und folgenreiche Fehlentscheidungen gehören ebenso zum Beruf. Der Arbeitsalltag ist leider nur zum Bruchteil direkte Patientenversorgung – das hatte ich erwartet, aber nicht, wie sehr es mich belasten würde. Ich hatte oft das Gefühl, mich nicht nach meinen Vorstellungen entfalten zu können und die Versorgung nicht nach meinen Ansprüchen machen zu können. Dann lernte ich zum richtigen Zeitpunkt meinen Mitgründer Lucas Spohn kennen. Er ist auch Arzt und war an einem ähnlichen Punkt wie ich, aber hatte sich mit dem Thema Unternehmensgründung schon auseinandergesetzt. Als er mir seine Idee für unsere Software Idana vorstellte, war ich sofort begeistert und meine Abenteuerlust war geweckt.
Trotz des Branchenwechsels sind Sie dem Kernpunkt „Health Care“ treu geblieben. Wie integriert dieser sich nun in Ihrem Berufsleben?
Ich liebe die Medizin. Deshalb war für mich klar, dass ich für etwas arbeiten möchte, das den ärztlichen Alltag erleichtert – und das machen wir mit Idana tagtäglich. Wir beraten Arztpraxen dabei, wie sie ihre Patientenaufnahme effizienter und komfortabler für beide Seiten – Praxisteam und Patient:in – gestalten können. Mit Idana verschaffen wir ihnen Freiraum, den sie für die Versorgung nutzen können.
Gibt es etwas, das Sie am aktiven Praktizieren im Arztberuf vermissen? Oder andersherum gefragt: Was macht Sie als Unternehmerin glücklicher als im praktizierenden Arztberuf?
Ich vermisse die Patientenversorgung und will nicht ausschließen, dass ich eines Tages wieder in die praktizierende Medizin zurückkehren werde. Aber die Jahre als Gründerin und Unternehmerin verschaffen mir einen Perspektivenwechsel und eine Horizonterweiterung, die ich sicher nicht erlebt hätte, wenn ich die Ausbildung als Ärztin weiterverfolgt hätte. Es macht mich glücklich, ein Unternehmen aus dem Nichts aufzubauen, neue Prozesse zu etablieren, die Früchte tragen, Mitarbeitende einzustellen und ihre Entwicklung zu unterstützen. Ich kann mich komplett entfalten und ständig Neues lernen.
2016 haben Sie das Unternehmen Tomes gegründet und die Software Idana entwickelt. Welche Initialzündung steckt dahinter?
Mein Kollege Lucas Spohn und ich haben bei unserer Arbeit als Ärzte immer wieder festgestellt: Das größte Problem ist die fehlende Patienteninformation bei mangelnder Zeit. Sie kennen das bestimmt: Sie sitzen beim Arzt, das Personal ist gestresst, Sie warten lange und wenn Sie dann endlich dran sind, haben Sie kaum Zeit, Ihre Beschwerden zu schildern. Das erweckt dann den Eindruck einer schlechten Organisation, was sich für beide Seiten schlecht anfühlt. Als Arzt oder auch als MFA gewöhnt man sich an das Gefühl des Hinterherlaufens. Lucas Spohn und ich finden es großartig, Menschen zu versorgen. Wir waren uns aber auch einig: So wie sich der Praxisalltag darstellt, wollen wir nicht in den Beruf einsteigen. Gemeinsam mit unserem dritten Gründer und CTO, dem Softwareentwickler Jerome Meinke, haben wir uns 2016 deshalb das Ziel gesetzt, ein Tool zu entwickeln, dass unsere Kolleginnen und Kollegen in ihrem ärztlichen Arbeitsalltag unterstützt.
Wie genau hilft Ihr digitales Patientenmanagement den Ärzt:innen und Patient:innen den Praxisalltag zu erleichtern? Und wo kann es überall eingesetzt werden?
Ärztinnen, Ärzte und ihr Praxispersonal sind medizinisch sehr gut ausgebildet. Aber ihnen fehlt die Zeit, den Beruf so auszuüben, wie sie es gerne möchten. Für eine gute Versorgung plus saubere Dokumentation braucht es eigentlich 20 bis 30 Minuten pro Patientenbesuch – im Schnitt sind es aber nur acht Minuten. In dieser kurzen Zeit muss dann alles geschehen: Informationsbeschaffung, Diagnose, Therapiebesprechung, Dokumentation. Irgendwas bleibt also immer auf der Strecke. Wir haben daher eine Software entwickelt, die relevante Informationen im Vorfeld direkt beim Patienten erhebt. Sie können zu Hause in aller Ruhe alle wichtigen Hinweise zu ihrem Zustand eingeben und die nötigen Formulare ausfüllen. Gerade für Menschen mit Sprachbarrieren und ältere Personen ist es enorm hilfreich, wenn sie genügend Zeit haben, über alle Symptome nachzudenken und diese lückenfrei ihrem Arzt mitteilen zu können.
Welche finanziellen Hürden sind auf Ihrem Weg von 2016 bis jetzt die größten gewesen?
Als Startup sind wir auf externe Finanzierung angewiesen, weil wir uns noch nicht über unsere Umsätze tragen können. Bei der letzten Finanzierungsrunde haben sich 15 unserer Kunden beteiligt und Anteile an der Firma erworben. Es macht uns sehr stolz, dass unsere Kunden an die Zukunftsfähigkeit von Idana glauben. Wir haben in den letzten Jahren die Basis für ein funktionierendes Unternehmen gelegt. Teams, Prozesse und das Produkt sind auf Skalierung ausgerichtet. Wir wissen, wie wir Kunden und Umsatz generieren können. Jetzt brauchen wir ausreichend Investitionen, um hochzuskalieren. Wir sind zuversichtlich, dass wir in der aktuellen Series A Finanzierungsrunde den passenden Lead-Investor finden werden.
Haben Sie schon andere Projekte in der Pipeline, die Sie in Zukunft entwickeln und launchen werden, welche ebenfalls eine Erleichterung für den Praxisalltag bringen werden?
Für 2023 stehen große Innovationen, wie die Integration in Online-Terminvergabesysteme und digitale Aufklärung auf der Roadmap der Firma. Die ersten Terminplaner, mit denen Idana verbunden sein wird, sind Tomedo und Doctena. Ab dem Frühjahr 2023 können Nutzerinnen und Nutzer dieser Softwares eine komplett automatisierte Patientenaufnahme testen: Patienten bekommen nach der Terminbuchung automatisch das richtige Fragebogen- und Formularpaket von Idana. Sobald dieser digitale Aufnahmeprozess rund läuft, werden wir unsere Schnittstelle auch für weitere Terminplanungssoftwares öffnen. Unser Ansatz ist es, mit starken Partnern zusammenzuarbeiten. Das Wichtigste dabei ist, dass es sich für Praxis und Patienten anfühlt wie aus einem Guss.
Als Ausgleich zu Ihrem Beruf als Unternehmerin haben Sie eine Leidenschaft für etwas „extremere“ Hobbys wie beispielsweise Surfen und Downhill-Biken. Wie sind Sie zu diesen Sportarten gekommen?
Ich war in meiner Jugend Leistungsschwimmerin und bin von meinen Eltern viel sportlich gefördert worden – Outdoor-Aktivitäten wie Skifahren, Bergsteigen, Wandern und Fahrradfahren habe ich quasi von meinem Vater geerbt. Die Liebe zur Natur sicherlich auch. Wellenreiten vereint die Naturverbundenheit mit meinem Element, dem Wasser. Bei keiner anderen Aktivität kann ich so gut abschalten. Es erfordert volle Konzentration, im richtigen Moment die richtige Welle anzupaddeln. Wenn die Wellen höher werden, muss man aus seiner Komfortzone heraus und das Risiko eingehen, von der Welle überrollt zu werden. Aber wenn es gut geht und man die Welle surft, ist das ein unbeschreibliches Gefühl. Zum Downhill-Biken hat mich mein Partner gebracht, mit dem ich auch zusammen surfe. Mir gefallen Aktivitäten, die mit Anstrengung und Überwindung verbunden sind, aber der Spaßfaktor bei Erfolg sehr groß ist.
Gibt es für Sie eine Verbindung zwischen Ihren Hobbys und Ihrem Berufsleben?
Ein Startup zu gründen, war eine große Herausforderung und sicherlich auch ein Risiko. Wieso sollte man den sicheren Hafen der ärztlichen Ausbildung verlassen, um in so eine Ungewissheit zu springen? Gerade die ersten Jahre einer Unternehmensgründung sind nicht sehr glorreich – wenig Budget, keine Erfahrung, kaum Unterstützung und auch noch keine bahnbrechenden Erfolge. Aber über die Jahre stellte ich fest, dass es genau das ist, was am besten zu mir passt. Es ist ähnlich wie beim Surfen, Downhill-Biken oder Tourengehen im Tiefschnee: Es ist anstrengend, es birgt ein Risiko, aber am Ziel angekommen ist die Belohnung und der Spaßfaktor umso größer.
Zu guter Letzt: Welche Tipps können Sie jungen Mediziner:innen geben, die ebenfalls eine Karriere im Unternehmertum anstreben?
Ein Unternehmen zu gründen ist definitiv nicht für jede:n etwas. Viele Mitarbeitende fragen mich oft, wie ich nachts schlafen kann, wenn wir wieder eine neue Finanzierungsrunde durchführen müssen, weil uns in wenigen Monaten sonst das Geld ausgeht. Damit muss man leben können und es als Teil der Reise akzeptieren. Ich würde unbedingt empfehlen, sich strategisch, finanziell und im Management viel Rat von erfahrenen Unternehmer:innen einzuholen – schließlich werden wir als Mediziner:innen überhaupt nicht auf das Unternehmertum vorbereitet. Aber mein wichtigster Tipp ist: einfach machen. Das Meiste lernt man auf der Reise. Für meine persönliche Weiterentwicklung ist das Abenteuer, ein Unternehmen zu gründen, unbezahlbar. Ich bereue die Entscheidung keinen Tag.