Die schlechtere Bezahlung im ÖGD im Vergleich zu einer ärztlichen Tätigkeit im Krankenhaus gilt als ein Grund, warum viele Gesundheitsämter Schwierigkeiten haben, Ärztinnen und Ärzte für offene Stellen zu gewinnen. Wie groß die Gehaltsdifferenzen sind und wie der vom Marburger Bund vorgeschlagene Tarifvertrag zu einem Problemlöser im Recruiting werden könnte, erklärt Dr. med. Hans-Albert Gehle, 1. Vorsitzender des Marburger Bundes Landesverband NRW/RLP, im arzt & karriere-Interview.
Wie groß ist die Gehaltsdifferenz für Ärzte im ÖGD im Vergleich zu Ärzten in kommunalen Krankenhäusern und woher resultiert diese unterschiedliche Bezahlung?
Der Gehaltsverlust einer Ärztin oder eines Arztes im ÖGD kann gegenüber einer ärztlichen Tätigkeit in einem Krankenhaus monatlich 1.500 Euro und mehr betragen. Die Ärztinnen und Ärzte im ÖGD werden nicht nach unserem arztspezifischen Tarifvertrag honoriert, sondern nach dem deutlich schlechteren TVöD.
Als dieser 2006 den BAT ablöste und für Ärztinnen und Ärzte massive Gehaltsverschlechterungen zur Folge hatte, haben wir uns mit monatelangen Streiks zehntausender Ärztinnen und Ärzte den besseren TV-Ärzte erkämpft. Mittlerweile haben wir Tarifverträge für Ärzte mit fast 200 Arbeitgebern abgeschlossen.
Aber es geht nicht nur um finanzielle Differenzen. Seit über einem Jahr arbeiten viele Ärztinnen und Ärzte im ÖGD 70 Stunden und mehr in der Woche. Zudem haben sie 24 Stunden an sieben Tagen pro Woche Bereitschaft – manchmal über Wochen. Und dafür gibt es keinen Freizeitausgleich.
Was einem nicht einleuchtet: Das Öffentliche Gesundheitswesen steht vor großen Herausforderungen, gleichzeitig sind schon heute viele Stellen nicht besetzt und in den kommenden Jahren werden altersbedingt viele Ärzte in den Ruhestand gehen. Normalerweise müssten die kommunalen Arbeitgeber eher mehr als weniger anbieten – aus welcher Haltung heraus ist dies nicht der Fall und wer könnte das ändern?
Was ist schon normal? Sie haben völlig Recht, eigentlich sind die Ursachen für die Missstände im ÖGD und die ursächlichen Fakten allen Beteiligten seit vielen Jahren bekannt. Die unveränderte Situation im ÖGD erzeugt in der Ärzteschaft viel Unverständnis. Der einzige Grund dafür ist eine schlicht ideologische Verweigerungshaltung der VKA.
Letztlich sind die verantwortlichen Akteure in der VKA Politiker, die gewählt wurden, die seit Jahren in ihren Ämtern stehen, die eigentlich die große Verantwortung tragen, so zu handeln, dass sich alle Bürgerinnen und Bürger auf einen hohen medizinischen Standard in unserem Gesundheitswesen – gerade im Notfall – verlassen zu können.
Doch statt den ÖGD zeitgemäß technisch auszustatten, angemessen personell aufzustellen und nach üblichen Standards zu bezahlen, haben diese Politiker in den vergangenen Jahren lieber – mit Blick auf ihre Haushaltsdefizite – den ÖGD kaputtgespart. Nun rennt Berlin den Versäumnissen der Zeit in den Ländern mit einer dicken Finanzspritze hinterher – leider mit einem noch nicht erkennbaren Erfolg.
Für den Marburger Bund haben Sie einen eigenen Tarifvertrag für Ärztinnen und Ärzte im ÖGD aufgesetzt, den Sie Oberbürgermeistern und Landräten in NRW und RLP seit kurzer Zeit anbieten. Welches ist Ihr Ziel dabei und warum sollte die verantwortliche Arbeitgeberseite sich bereit erklären, einen arztspezifischen Tarifvertrag für Ärzte im ÖGD des Marburger Bundes zu akzeptieren?
Unser Ziel ist es, den ÖGD für Ärztinnen und Ärzte wieder attraktiv zu machen. Die ÖGD-Ärzte dürfen nicht weiter allgemein gültigen tariflichen Standards für Ärzte abgekoppelt werden. Die Arbeitgeber können nur mit unserem TV-Ärzte den ÖGD als ärztlichen Arbeitsplatz dauerhaft stärken. Ohne TV-Ärzte werden offene Stellen in der Ära des Ärztemangels nicht wieder besetzbar sein.
Es sollen bundesweit 3,1 Milliarden Euro für die personelle Verstärkung in den ÖGD fließen. Wo landen die eigentlich?
Das fragen wir uns seit einigen Monaten auch. Es gibt diese politische Absichtserklärung. Im ÖGD-Pakt stellt der Bund insgesamt 3,1 Milliarden Euro für Personal, Digitalisierung und moderne Strukturen zur Verfügung, aber leider gibt es bisher noch keinen Beleg dafür, dass das bereitgestellte Geld auch in den Gesundheitsämtern eine beabsichtigte Wirkung zeigt, etwa für die Anstellung neuer Ärztinnen und Ärzte oder für bessere Ärztegehälter der vorhandenen ÖGD-Ärzte genutzt wird.
Bund und Länder sind übereingekommen, in diesem Jahr mit der ersten Tranche der Förderung zu starten. Der Förderzeitraum wird auf sechs Jahre festgesetzt. Seit Ende April tagt der Beirat zur Beratung zukunftsfähiger Strukturen im Öffentlichen Gesundheitsdienst. Bis Ende Oktober 2021 will der Beirat Bund und Ländern einen ersten Bericht mit Empfehlungen für die Weiterentwicklung des ÖGD vorlegen. Eine wirkliche Lösung für den ÖGD wird wohl leider nicht so schnell vorliegen.
Ich darf Minister Spahn zitieren: „Bund und Länder haben während der Pandemie zusammen festgestellt, dass es Defizite gab. Wir wollen die Corona-Krise nicht nur irgendwie überstehen. Wir wollen daraus lernen, den Öffentlichen Gesundheitsdienst so aufzustellen, dass er für künftige Pandemien gerüstet ist.“ (Quelle. Pakt für den öffentlichen Gesundheitsdienst | BMG (bundesgesundheitsministerium.de) Wir fragen uns, wie lange soll das noch dauern?
Wie sind Ihre Erfahrungen mit diesem Angebot, hat schon jemand diesen Vertrag genutzt?
Nein. Erste Oberbürgermeister und Landräte haben uns gegenüber bisher nur ihr Interesse bekundet, ÖGD-Ärzte nach unserem TV-Ärzte bezahlen zu wollen.
Sobald die ersten Oberbürgermeister oder Landräte unseren TV-Ärzte akzeptieren würden und dies offensiv kommuniziert würde, hätten sie im Recruiting einen deutlichen Wettbewerbsvorteil gegenüber denjenigen, die das nicht tun.
Warum bieten Sie den Vertrag nur in NRW und RLP an? Könnte ein kommunaler Arbeitgeber aus einem anderen Bundesland, der ganz dringend Ärzte sucht, sich bei Ihnen melden und verzweifelt rufen „…dann zahle ich halt mehr!“ oder gibt es VkA-arbeitsrechtliche oder länderspezifische Hemmnisse?
Nein, gibt es nicht. Es ist eine Initiative, die wir in unserem Landesverband für die ÖGD-Ämter in NRW und RLP gestartet haben, eben, weil die VKA sich beharrlich weigert, selbst vertraglich schon vereinbarte Tarifverhandlungen mit dem Marburger Bund tatsächlich zu führen.
Wir haben einen ähnlichen Vorstoß vor über einem Jahrzehnt in kirchlichen Kliniken gestartet. Wir haben die Kliniken in kirchlicher Trägerschaft, die freiwillig nach dem TV-Ärzte zahlten, auf eine Positivliste gesetzt. Das fing klein an, aber sprach sich dann rum, denn die Kliniken, die nach unserem TV-Ärzte vergütet haben, hatten nicht nur die zufriedeneren Ärztinnen und Ärzte, sondern auch weniger offene Arztstellen und einfach mehr Bewerber. Selbstverständlich kann jeder OB/Landrat hierzulande unseren Tarifvertrag als Vorlage in seiner Region nutzen. Wir helfen gerne weiter.
Einzelne Öffentliche Arbeitgeber bieten heute schon Zulagen oder sogenannte Personalgewinnungszuschläge an, die bei Einsteigern bis zu 500 Euro ausmachen können. Heißt das, es tut sich etwas auf Arbeitgeberseite?
Nein. Diese individuellen Zulagen gibt es schon seit vielen Jahren, aber das sind mehr oder weniger nur sogenannten Nasenprämien. Niemand redet gerne offen darüber und das hat wiederum Gründe. Es ist vor allem eben nicht der Mindeststandard eines Tarifvertrages, sondern nur eine Zulage, die meist längst nicht jeder erhält, die selbst in einem Amt unterschiedlich hoch ausfallen können und die vor allem jederzeit auch wieder gestrichen werden können.
Wir fordern seit 2006, dass alle ÖGD-Ärzt:innen nach unserem TV-Ärzte weitaus besser bezahlt werden müssen. Aber es geht eben auch um die Verbesserung der Arbeitsbedingungen.
Wenn Sie heute als junger Arzt überlegen würden, eine Weiterbildung zum Facharzt für Öffentliches Gesundheitswesen in einem Gesundheitsamt zu absolvieren oder eine andere Weiterbildung in einem Krankenhaus zu starten, nach welchen Kriterien würden Sie entscheiden?
Das ist sicherlich immer eine höchst persönliche Entscheidung, je nach vorhandenen individuellen Interessen, den Vorstellungen, Fähigkeiten und natürlich den Lebensplänen. Wer in einer Klinik oder auch Praxis als angestellter Arzt nach unserem Ärztetarif bezahlt wird und dort die richtige Stelle für seine Facharztausbildung gefunden hat, sucht wohl kaum seine berufliche Zukunft im ÖGD. Er steht im ÖGD immer hinter seinen beruflichen Möglichkeiten in einem tariflich besser geregelten Arbeitsverhältnis. Er verliert – über seine gesamte Berufslaufbahn betrachtet – eine stattliche Summe. Aber es geht nicht nur um Geld.
Im ÖGD sind Ärztinnen und Ärzte seit über einem Jahr völlig überlastet. Unser TV-Ärzte kennt hingegen klare Begrenzungen bei der Gesamtarbeitsbelastung, um die Gesundheit der Ärztinnen und Ärzte zu schützen. Wir haben in unseren Tarifverträgen seit 2019 etwa neue Höchstgrenzen für Wochenend- und Bereitschaftsdienste durchgesetzt. Es gibt die klare Pflicht zur Erfassung der Anwesenheit als Arbeitszeit, Dienstpläne müssen frühzeitig vorliegen und verlässlich sein. Das schafft nicht nur mehr Zufriedenheit, sondern ermöglicht auch eine viel bessere Vereinbarkeit des Berufs- und Privatlebens.
Wir stellen fest, dass viele Gesundheitsämter gar keinen Weiterbildungsbefugten mehr in ihren Reihen wissen. Sägt man sich so den Ast, auf dem man sitzt, nicht selbst ab, wenn man keinen Nachwuchs mehr ausbildet?
Das ist richtig. Ohne erfahrene und qualifizierte Ärzt:innen mit einer Weiterbildungsbefugnis der jeweiligen Ärztekammer, die ihr Wissen und ihre Erfahrungen an weiterzubildende Ärztinnen und Ärzte weitergeben, hat der Facharzt im ÖGD keine Zukunft. Vermutlich wird es auch besondere Zulagen für die Betroffenen geben.
Tatsächlich kommen viele Ärztinnen und Ärzte bereits als Facharzt. Sie absolvieren dann einen zweiten Facharzt ÖGD obendrauf. Fazit: Sie werden nicht als Facharzt nach unserem TV-Ärzte bezahlt und es gibt keinen vereinbarten Weg in die Qualifikation zu Facharzt ÖGD. Sie müssen sich quasi allein darum kümmern.
Sie selbst arbeiten nicht im ÖGD. Von vielen Ärzten, die ebenfalls nicht im ÖGD arbeiten, haben wir erfahren, dass sie erst seit der Pandemie Aufmerksamkeit und Wertschätzung für den ÖGD entwickelt haben. Unterstellen wir, dass das Gedächtnis der Menschen kurz ist: Hat der ÖGD auch abseits tariflicher Fragen ein Image- oder Bekanntheitsproblem?
Das ist richtig, die Corona-Pandemie hat der Öffentlichkeit, aber vor allem der Politik vor Augen geführt, wie unverzichtbar der ÖGD in unserem Gesundheitswesen ist. Er ist die dritte Säule mit vielfältigen und wichtigen Aufgaben. Wir haben seit vielen Jahren immer darauf hingewiesen, wie unverzichtbar die Arbeit des ÖGD für unsere Gesellschaft ist, nicht nur wegen des Infektionsgeschehens.
Die letzte Frage ist unabhängig vom ÖGD zu verstehen: Da wir viele Leser haben, die vor der Frage nach der für sie passenden fachärztlichen Weiterbildung stehen, nach welchen Kriterien würden Sie diese heute auswählen?
Sie sollten sehr genau prüfen, ob an der anvisierten neuen Stelle tatsächlich die angestrebte Weiterbildung vollständig absolvierbar ist. Und sie sollten auch nur dort arbeiten, wo unsere Tarifverträge gelten und neben der fairen Bezahlung die Gesamtarbeitslast durch unsere neuen Höchstgrenzen für Wochenenddienste oder Rufbereitschaften abgesenkt wurde. Die Dienstpläne sollten frühzeitig und verlässlich gelten, um eine gesunde Vereinbarkeit von Berufs- und Privatleben zu ermöglichen.
Dr. med. Hans-Albert Gehle ist Facharzt für Anästhesiologie und Innere Medizin und seit 2015 1. Vorsitzender des Marburger Bund Landesverbandes NRW/RLP. Darüber hinaus engagiert er sich im Betriebsrat der Klinik Bergmannsheil.
Mehr zum Öffentlichen Gesundheitsdienst unter: arztundkarriere.com/oeffentlicher-gesundheitsdienst