Dr. Müsch: Als Betriebsarzt beschäftigt man sich mit dem ganzen Mensch – mehr, als in anderen Disziplinen
Um als Betriebsarzt zu arbeiten, muss man sich durch einen juristischen Dschungel schlagen und hat mit allerlei Formalitäten zu kämpfen. Warum der Beruf trotzdem spannend ist, erklärt der Arbeits- und Betriebsmediziner Dr. Franz H. Müsch.
Die Arbeits- und Betriebsmedizin wirkt für Außenstehende nicht besonders attraktiv. Das liegt hauptsächlich an den formalen juristischen Voraussetzungen, die den Berufsalltag bestimmen. Dennoch bieten sich interessante und anspruchsvolle Berufsperspektiven. Aufgrund des Nachwuchsmangels und der Überalterung in der Branche sind zudem gute Aufstiegschancen gegeben: Laut Umfrage des Aktionsbündnisses zur Sicherung des arbeitsmedizinischen Nachwuchses sind von etwa 12.000 Arbeits- und Betriebsmedizinern in Deutschland ein Drittel älter als 65 Jahre.
Während die Ärzteschaft ein Berufsleben lang mit der Gesetzlichen Krankenversicherung (SGB V) verstrickt ist, greifen in der Arbeitswelt hauptsächlich die Gesetzliche Unfallversicherung (SGB VII, einschließlich Berufskrankheiten) und das Arbeitssicherheitsgesetz. Das bedeutet, dass Arbeits- und Betriebsmedizin (leider) nicht im Gesundheitsministerium, sondern im Arbeitsministerium zu Hause sind.
Das Arbeitssicherheitsgesetz (ASiG): Gesetz über Betriebsärzte, Sicherheitsingenieure und andere Fachkräfte für Arbeitssicherheit
Beim ASiG handelt es sich quasi um die Zutrittsermächtigung für Mediziner auf ein Betriebsgelände – allerdings unter Inkaufnahme einiger Vorgaben, die zwar teilweise abseits des Arztberufes stehen, jedoch unter präventiv-medizinischen Aspekten nachvollziehbar sind. Die Wahl und Gestaltung nicht gesundheitsgefährdender Arbeitsmittel und Arbeitsbedingungen gehört demnach genauso zu den Aufgaben eines Betriebsarztes, wie die Überprüfung der Arbeitszeit und -abläufe. Hierfür sind gute chemische, physikalische und biologische Grundkenntnisse erforderlich, aber auch soziale Kompetenz und juristische Sicherheit im Umgang mit dem Arbeitssicherheitsgesetz.
Laut Gesetz betreuen Betriebsmediziner keine Patienten im hippokratischen Sinne, sondern „Arbeitnehmer“. Der Begriff „Betriebsarzt“ ist somit eigentlich falsch, da Mediziner erst durch Patienten zu „Ärzten“ werden. Zudem räumt das Gesetz den Medizinern keine klinischen Aufgaben ein, Beratungsfunktionen gegenüber Unter- und Arbeitnehmer hingegen werden mehrfach betont. Die Indikation zur medizinischen Vorsorge (besser: Früherkennung, zum Beispiel von Berufskrankheiten) ergibt sich im Betrieb nicht primär durch individuelle Erkrankungen der Mitarbeiter – wie im Studium erlernt – sondern durch gesundheitsgefährdende Tätigkeiten. Der klinisch anspruchsvolle Begriff „Berufskrankheit“ kommt in diesem Gesetz leider gar nicht vor. Zudem ist wegen der fehlenden Kassenzulassung eines Betriebsmediziners eine ordentliche Überweisungsmöglichkeit zu anderen Fachärzten nicht gegeben.
Ein Betriebsarzt darf den Betroffenen etwa bei einer Lungenerkrankung, die arbeitsbedingt sein könnte, nur dazu raten, einen Pneumologen aufzusuchen. Gleichzeitig muss er aber eine mögliche Berufskrankheit immer bei der zuständigen Versicherung melden. Dies kommt einer Selbstanzeige gleich, denn es wäre seine Aufgabe gewesen, eine Berufskrankheit durch Prävention zu verhindern. Hier wird nur eine von vielen moralischen Zwickmühlen des Betriebsmediziner-Daseins offenbar.
Die Gesetzliche Unfallversicherung (SGB VII)
Auch diese Regelung firmiert unter falschem Namen, da sie „Berufskrankheiten“ (§ 9) und die „Erlösung“ der Unternehmerschaft von ihrer Haftpflicht (§ 104) mit einbezieht, ohne dies im Titel zu benennen. Vor allem aber werden Arbeits- und Betriebsmediziner von diesem Gesetz ignoriert; lediglich Gewerbeärzte werden im Berufskrankheitenverfahren in einer nachrangigen Funktion angesprochen. „Herr des Verfahrens“ sind die Unfallversicherungsträger (am bekanntesten als Berufsgenossenschaften), deren Einfluss auf Arbeits- und Betriebsmedizin derart angewachsen ist, dass diese in „Versicherungsmedizin“ umbenannt werden könnten. Die Abhängigkeit der Mediziner in dieser Konstellation ist größer als diejenige der klinisch-praktisch tätigen Ärzte von der Pharmaindustrie. Wenn man die vielfältigen nachgeordneten juristischen Regelungen mit anführen wollte, ergäbe sich als Gesamtbild das Gegenteil von dem, was manchem von einem freien Arztberuf vorschwebt. Arbeits- und Betriebsmedizin sind aber ohne diese Vorgaben nicht mehr denkbar.
Wie wird man Betriebsarzt – und welche Perspektiven gibt es?
Die Betriebsmedizin spricht wie kaum ein anderes medizinisches Fach den „ganzen“ Menschen an, denn die Vielzahl der Berufskrankheiten tangiert fast alle klinischen Fachgebiete. Gerade wen die Ursachenforschung und Früherkennung von Berufskrankheiten insbesondere auch wissenschaftlich interessiert (vergleiche BK-Nr. 2110) sollte sich die Betriebsmedizin einmal genauer ansehen.
Für die betriebsmedizinischen Aufgaben der sogenannten „ASiG-Ärzte“ wird gesetzlich eine Fachkunde vorausgesetzt, die mit der Erlangung der Zusatzbezeichnung „Betriebsmedizin“ mehr als erfüllt ist. Daher sei an dieser Stelle empfohlen, den Begriff „Zusatzbezeichnung“ wörtlich zu nehmen. Sie kann durch eine dreijährige Weiterbildung inklusive eines dreimonatigen Kurses an einer Akademie für Arbeitsmedizin erworben werden. Selbstverständlich werden neben betrieblicher Praxiserfahrung auch Pflichtzeiten in innerer und allgemeiner Medizin verlangt.
Während traditionell Betriebsmediziner als sogenannte Werksärzte vor allem in der Großindustrie angestellt sind oder als externe Betreuer betriebsmedizinische „Dienste“ anbieten, interessieren sich auch niedergelassene Ärzte mit Kassenzulassung zunehmend für ein zusätzliches betriebsmedizinisches Standbein. Normale Betriebsmediziner werden oft nicht als „richtige Ärzte“ angesehen. Ein Kassenarztsitz (vorzugsweise für Allgemeinmedizin) kombiniert mit der Zusatzbezeichnung „Betriebsmedizin“ verleiht ihnen jedoch eine ärztliche Autorität, die auch einer Betriebsleitung erklärbar ist. Vor allem schmälert die berufliche Absicherung eines Kassenarztes bei zusätzlicher betriebsmedizinischer Aufgabenübernahme die Lohnabhängigkeit vom Unternehmer – einer der wesentlichen Vorteile dieses Modells: Selbstständigkeit und Unabhängigkeit bleiben weitgehend erhalten.
Berufsperspektiven in der Arbeitsmedizin
Laut ASiG schließt der erfolgreiche Abschluss der fünfjährigen arbeitsmedizinischen Ausbildung eine betriebsmedizinische Fachkunde ein, obwohl viele Arbeitsmediziner nie betriebsmedizinisch tätig waren. Ein ordentliches arbeitsmedizinisches Curriculum würde (wenn man wenigstens zwei Weiterbildungsstellen verlangt) aber neben Betriebserfahrung auch Pflichtzeiten in Uniinstituten oder Polikliniken für Arbeitsmedizin, bei staatlichen oder Landesgewerbeärzten et cetera vorsehen müssen. Als anspruchsvollste arbeitsmedizinische Aufgabe des Fachgebietes ist die Berufskrankheiten-Begutachtung der „Versicherten“ (SGB VII) anzusehen. Hier geht es um die Beurteilung des kausalen Zusammenhanges zwischen klinischer Diagnose und schädigenden Expositionsbedingungen am Arbeitsplatz, also um arbeitsmedizinische Zusammenhangsgutachten.
Wäre der Arbeitsmediziner von Haus aus auch als Facharzt für die zugrunde liegende Krankheit zuständig, könnte er sich quasi als „Obergutachter“ zum Beispiel bei Sozialgerichten einen Namen machen. Empfehlenswerte Facharztkombinationen sind Arbeitsmedizin mit Pneumologie, Orthopädie, Dermatologie – aber auch Neurologie, denn dies sind Fachgebiete mit einem hohen Aufkommen von Berufskrankheiten. Dass dabei zuerst aus ärztlichem Selbstverständnis heraus eine kassenärztliche Niederlassung angestrebt werden sollte, versteht sich von selbst. Als zweifacher Facharzt kämen schließlich bei der Arbeitsplatzsuche auf dem normalen Markt für Arbeitsmediziner nur noch die attraktivsten Stellen in Frage. Zudem begünstigt die Ärztliche Weiterbildungsordnung eine Doppelfacharztausbildung zeitlich bis zu zwei Jahren, da bestimmte klinische Grundfächer mehrfach angerechnet werden können.
Arbeits- und Betriebsärzte im internationalen Arbeitsumfeld
Nicht zuletzt wegen unseres weltweit anerkannten Systems von Berufskrankheitenlehre und -recht eröffnen sich den Arbeits- und Betriebsmedizinern weitere Horizonte, beispielsweise in der Entwicklungshilfe. Die weitest reichenden Perspektiven bieten die supranationalen Institutionen: Europäische Union und United Nations. Während für die entsprechenden EU-Planstellen fast ein Anspruchsrecht bestehen müsste, sind die Positionen bei den UN-Unterorganisationen (zum Beispiel WHO und andere) weltweit sehr umkämpft.
MedDir a. D. Dr. Franz H. Müsch war langjähriger Ressort- und Regierungsvertreter des Bundesarbeitsministeriums in den nationalen und supranationalen Berufskrankheitengremien. Als Arbeits-beziehungsweise Betriebsmedi- ziner und Pneumologe ist er weiterhin gutachtlich tätig.
Literatur:
Berufskrankheiten. Ein medizinisch-juristisches Nachschlagewerk. Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, Stuttgart 2006.
Berufskrankheiten – Todesfälle. Bilanz einer Ministerin. Arbeit und Arbeitsrecht, 69. Jahrgang. S.353-355, 2014.
Mehr zu Studium & Berufseinstieg finden Sie unter: arztundkarriere.com/studium-und-berufseinstieg
Informationen zu Weiterbildungsmöglichkeiten unter: arztundkarriere.com/weiterbildung