Die Allgemein- und Viszeralchirurgie ist ein Fach mit hoher Dynamik, großem medizinischen Gestaltungsraum und unmittelbarer Wirkung. Ein veraltetes Bild des chirurgischen Berufs schreckt manche jungen Menschen ab – dabei bietet die moderne Chirurgie heute mehr denn je attraktive Karrierewege, interdisziplinäre Zusammenarbeit und ein hohes Maß an Innovation, etwa durch den Einsatz künstlicher Intelligenz. Prof. Dr. Andreas Kirschniak und Pirmin Storz berichten im Interview, wie angesichts der bevorstehenden Verrentung zahlreicher erfahrener Kolleg:innen neue Möglichkeiten entstehen, Verantwortung zu übernehmen und die Zukunft der Medizin aktiv mitzugestalten.
Verfügen Sie in Ihrer Fachgesellschaft über demografische Prognosen, wie viele Baby Boomer aus Ihrer Fachdisziplin in den kommenden Jahren aus dem Berufsleben ausscheiden, ohne dass entsprechender Nachwuchs eintritt und sich dadurch ein deutlicher Stellenüberhang entwickeln könnte? Oder konnten Sie in den letzten Jahren starken Zulauf in Ihrem Fachgebiet verzeichnen und würden die Lage als entspannt ansehen? Was folgt für Sie aus der Prognose?
In unseren Fachgesellschaften beobachten wir mit zunehmender Aufmerksamkeit die demografische Entwicklung innerhalb der Chirurgie. Es ist unübersehbar, dass ein erheblicher Teil unserer Kolleginnen und Kollegen der sogenannten Babyboomer-Generation in den kommenden Jahren in den Ruhestand treten wird.
Aus der Ärztestatistik der Bundesärztekammer aus dem Jahr 2018 geht hervor, dass in der Chirurgie von 37.853 damals aktiven Ärztinnen und Ärzten 7.443 bereits 60 Jahre alt oder älter waren und somit bis heute fast 20 Prozent der damals aktiven Chirurg:innen aus der Patientenversorgung ausgeschieden sind. Bis 2030 folgen weitere 10.000. Es zeichnet sich ab, dass ein immer größerer Anteil ausscheiden wird. Gleichzeitig steigt der Bedarf. So waren im Jahr 2023 waren in der Chirurgie 41.287 Chirurgen aktiv, was gegenüber 2018 einer Zunahme von 9 Prozent darstellt.
Dem steht derzeit kein gleichwertiger Zustrom an Nachwuchs gegenüber. Im oben genannten Zeitraum ist die Zahl der Berufseinsteiger um 6 Prozent gesunken und dies trotz wachsender Zuwanderung aus dem Ausland. Die Folge wird – wenn nicht entschieden gegengesteuert wird – ein spürbarer Engpass an qualifizierten Chirurginnen und Chirurgen sein.
Warum das so ist? Ein wesentlicher Aspekt ist sicher ein oft vorurteilsgeprägtes Bild, das angehende Ärzte von der Chirurgie haben. Ein Fach von Einzelkämpfern, die unter einem rauen Klima und unter Personalknappheit einen stressigen arbeitsreichen Alltag leben. Vor diesem Hintergrund mögen die oben genannten Zahlen sogar noch abschreckender wirken. Doch die Wahrheit ist eine andere und die Situation birgt enorme Chancen. Die Chirurgie bietet heute mehr denn je sichere, vielfältige und verantwortungsvolle Karriereperspektiven. Wer sich jetzt für diesen Weg entscheidet, wird nicht nur sehr gute berufliche Aussichten haben, sondern auch aktiv an der Weiterentwicklung eines hochdynamischen und innovativen Fachs mitwirken können.
Für uns als Fach – und auch für mich persönlich – folgt aus der aktuellen Situation: Wir müssen sichtbarer und attraktiver für den Nachwuchs werden. Das bedeutet konkrete Angebote wie strukturierte Weiterbildung, Mentoring-Programme, planbare Karrierepfade und eine moderne, teamorientierte Arbeitskultur. Wir müssen das Bild der Chirurgie neu denken – hin zu einem interdisziplinär arbeitenden, hochqualifizierten Team, das moderne Medizin auf Spitzenniveau betreibt.
Ich lade jede junge Kollegin und jeden jungen Kollegen ein, sich ein realistisches Bild unseres Faches zu machen – idealerweise durch Hospitationen, Gespräche mit Weiterbildungsbefugten oder den direkten Austausch mit jungen Assistenzärztinnen und -ärzten. Wer sich für die Chirurgie entscheidet, entscheidet sich für ein Team mit starkem Zusammenhalt und ein Fach mit Zukunft.
Die technologische Entwicklung verläuft vor allem im Bereich KI rasant. An welchen Stellen merken Sie dies bereits jetzt, wie wird es die Arbeit in Ihrem Fachgebiet verändern und wie können sich Medizinstudierende schon heute damit vertraut machen, selbst wenn in der Lehre die neuen Möglichkeiten noch nicht behandelt werden?
KI in der Chirurgie kann grundsätzlich sehr vielseitig eingesetzt werden. Allerdings sind mögliche Sicherheitsrisiken durch die Unmittelbarkeit unseres Fachs teilweise besonders hoch. KI wird in unserem Fach daher sicher noch längere Zeit mehr auf der virtuellen Anwendungsebene eingesetzt werden. Angefangen von Dokumentationsaufgaben, wie der Arztbriefschreibung, über Analyse von Messdaten zur Unterstützung der klinischen Entscheidungsfindung oder Aufgaben in Zusammenhang mit Bildverarbeitung und -Darstellung, bis hin zu kontextsensitiven Assistenzsystemen bei der Überwachung von OP-Schritten und dem Einsatz im Bereich des chirurgischen Trainings ist vieles bereits möglich. Was die physische Anwendungsebene betrifft, sind wir von einer KI gesteuerten Operation noch ein gutes Stück entfernt, diverse Versuche an Modellen laufen jedoch bereits.
Eine Vermittlung der Technologisierung der Chirurgie im allgemeinen während des Studiums besteht gegenwärtig nicht und ist nicht in den Gegenstandskatalogen verankert. Allerdings können im Rahmen von praktischen Tätigkeiten wie Famulaturen und das praktische Jahr Eindrücke erlangt werden. Eine akademische Auseinandersetzung mit dem Thema künstliche Intelligenz ist natürlich in wissenschaftlichen Arbeiten als Projektarbeit oder als Promotionsarbeit möglich. Um einen Einblick zu erlangen, wie sich die chirurgischen Disziplinen weiter entwickeln, sind heutzutage auf allen großen chirurgischen Kongressen Nachwuchsessions integriert und studierende werden in die akademische Welt der Chirurgie wird mit eingebunden.
Was bieten Sie als Fachgesellschaft an, damit sich Medizinstudierende sicherer werden, ob Ihre Disziplin die passende für sie ist und was sind Ihre drei stärksten Argumente dafür, genau in Ihrem Fachgebiet seine Zukunft als Ärztin oder Arzt zu sehen?
Unserer Berufsverband (BDC) als auch die spezifischen Fachgesellschaften bieten viele Möglichkeiten für Medizinstudierende, mit der Chirurgie in Kontakt zu treten. Neben einem umfangreichen inhaltlichen digitalen Angebot werden auch Staatsexamen vorbereitende Kurse angeboten. In zahlreichen praktischen Workshops besteht die Möglichkeit, sich auch im handwerklichen Aspekt unseres Fachs zu versuchen und gegebenenfalls Zweifel auszuräumen. Ein besonderes Highlight ist sicherlich die bundesweit ausgeschriebene Chirurgische Woche, die jährlich unter Beteiligung hochkarätiger Dozenten in Mönchengladbach stattfindet.
Unsere Fachgesellschaft bietet aber auch die Möglichkeit in Arbeitskreisen von Beginn an mitzugestalten. Nicht zuletzt bietet unser Berufsverband auch eine Plattform, Kontakte zu knüpfen oder Ansprechpartner zu finden. Am wichtigsten ist sicherlich, sich vor Ort ein Bild zu machen, Teams kennenzulernen und sich über etwaige Vorbehalte auszutauschen.
Die Chirurgie ist sicherlich ein Fach, für das man eine gewisse Begeisterung benötigt. Diese kann man nur am OP-Tisch und in der Patientenversorgung voll erfahren.
Aus meiner Sicht zeichnet die Arbeit in der Chirurgie aus:
- Medizinisch breit aufgestellt zu sein – invasiv, wie konservativ oder: Der Mix aus Handwerk und Geisteswissenschaft: Im Rahmen der Stationsarbeit adressieren wir auch zahlreiche nicht-chirurgische Probleme unserer Patienten – und das nicht nur per Konsil. Die Chirurgie ist sicher kein schmaler abgegrenzter Bereich, sodass Chirurg:in sein in einer Welt immer feingliedrigerer Spezialisierung noch am ehesten das ursprüngliche Arztsein ermöglicht.
- Ein starkes Team um sich zu haben – über Stunden zu zweit oder dritt auf einem Quadratmeter Boden zusammenarbeiten zu können: Während einer Operation ist ein Hand in Hand arbeiten im Team, die Diskussion des Vorgehens und eine ständige gegenseitige Reflexion unerlässlich für ein gutes Ergebnis. Das Team lässt den Einzelnen über sich hinauswachsen.
- Über den Tellerrand hinauszuschauen – es wird nie langweilig: Sowohl in der Notfallversorgung, zum Beispiel im Schockraum, als auch in der elektiven Chirurgie, zum Beispiel im Rahmen von Tumorkonferenzen, bietet unser Fach zahlreiche Schnittstellen zu anderen Fächern. Dies ermöglicht es, das eigene Wissen immer wieder neu in verschiedene Richtungen auszubauen. Gleichzeitig bestehen zahlreiche persönliche Spezialisierungsmöglichkeiten. Auch die mit unserem Fach verwobenen Bereiche Technologie und Wissenschaft bieten vielseitige Möglichkeiten, sich weiter zu entwickeln.
- Die Unmittelbarkeit des Fachs: Im guten wie im schlechten Sinne kann man die Wirkung des eigenen Tuns direkt sehen
Die eingangs erwähnte demographische Entwicklung sorgt in unserem Fach für gute Karrieremöglichkeiten, beinhaltet ein großes persönliches Entwicklungspotential. Die Nachfrage an qualifiziertem Nachwuchs steigt stetig. Was wir aus meiner Sicht dem Berufsanfänger bieten müssen, sind eine klare strukturierte Weiterbildung, Mentoring-Programme, planbare Karrierepfade und eine moderne, teamorientierte Arbeitskultur.
Prof. Dr. Andreas Kirschniak ist Facharzt für Allgemeine und Viszeralchirurgie, Spezielle Viszeralchirurgie, und studierte in bis 2002 Tübingen. Seit 2020 ist er Chefarzt der Klinik für Allgemein- und Viszeralchirurgie der Kliniken Maria Hilf GmbH. Er ist Außerplanmässiger Professor an der medizinischen Fakultät der Universitätsklinik Tübingen und leitet das Darmkrebszentrum und die „Interdisziplinäre Roboterchirurgie“ der Kliniken Maria Hilf GmbH, Mönchengladbach.
Primin Storz beendete sein Studium 2013 ebenfalls in Tübingen. Er ist Facharzt für Viszeralchirurgie und seit 2025 Funktionsoberarzt der Klinik für Allgemein- und Viszeralchirurgie der Kliniken Maria Hilf GmbH.
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