Zu Beginn des Humanmedizinstudiums ist der Anteil der weiblichen Studierenden bedeutend höher als der der männlichen, aber nach der Facharztanerkennung kehrt sich das Verhältnis nahezu um. Trotz der zunehmenden Diversität der Gesellschaft und der allgemeinen Lippenbekenntnisse, dass die Gleichberechtigung von Männern und Frauen und die Karrieren von Frauen gefördert werden müssen, gibt es kaum Ärztinnen in den ärztlichen Direktionen oder Führungspositionen. Auch in der Niederlassung sind Ärztinnen in vielen Fachbereichen in der Minderheit. Was sind die Gründe? Dr. Ulrike Engelmayer, niedergelassene Radiologin im RadiologieZentrum Schwabmünchen in Bayerisch-Schwaben, gibt einen Überblick und eine persönliche Einschätzung zu diesem Thema.
Bis zur Gleichberechtigung von Männern und Frauen ist es nicht nur in der Gesellschaft, sondern auch in der Medizin noch ein weiter Weg. Die Gründe für diesen Sachverhalt liegen meines Erachtens hauptsächlich in zwei Bereichen: Erstens im hohen Anteil an unbezahlter Fürsorge- und Hausarbeit, der von Frauen, auch Ärztinnen, geleistet wird, und zweitens in der Benachteiligung von Ärztinnen im Arbeitsalltag und im beruflichen Vorankommen.
Ungleichheiten in der Fürsorge- und Hausarbeit zwischen Ärztinnen und Ärzten
Der hohe Anteil von Frauen an der Fürsorge- und Hausarbeit lässt sich durch viele Studienergebnisse belegen. Beispielsweise zeigen die Ergebnisse der Erlanger Längsschnittstudie BELA-E, dass Ärztinnen zu 85 Prozent Partner mit demselben Bildungsabschluss haben, 40 Prozent der Partner selbst Ärzte sind und 91 Prozent der Partner von Ärztinnen in Vollzeit arbeiten. Bei Ärzten sind die Prozentsätze in allen Bereichen niedriger, sie haben also eher Partnerinnen, die „ihnen den Rücken freihalten“. Darüber hinaus ist nachgewiesen, dass sich die Zeitanteile, die Männer und Frauen in die Fürsorge- und Hausarbeit einbringen, deutlich unterscheiden. So zeigt die Studie des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts der Hans-Böckler-Stiftung (2017), dass Frauen im Alter von 18 bis 64 Jahren 2,4-mal mehr Zeit für unbezahlte Fürsorgearbeit und 1,6-mal mehr Zeit für Hausarbeit aufwenden als Männer. Es scheint oft selbstverständlich zu sein, dass Mütter nach der Geburt des ersten Kindes die Fürsorgearbeit übernehmen und die Erwerbstätigkeit reduzieren. Dies bestätigen die Erfahrungen in meinem persönlichen Umfeld. Sie weisen darauf hin, dass es in erster Linie die Familiengründung ist, die Ärztinnen in ihrer beruflichen Weiterentwicklung zurückwirft.
Benachteiligung von Ärztinnen im Arbeitsalltag und im beruflichen Vorankommen
Diesen gesellschaftlichen Tatsachen stehen individuelle Bemühungen nach dem beruflichen Vorankommen entgegen. Oft sind Ärztinnen hochmotiviert, sich im Beruf einzubringen und Verantwortung zu übernehmen. Um dies zu erreichen, müssen sie jedoch in Rekrutierungs- und Einstellungsverfahren, bei Beförderungen und im beruflichen Alltag vielfältige Hürden überwinden. Oft spielt bei der Wahl eine:r Kolleg:in oder Mitarbeiter:in das sogenannte Thomas-Prinzip eine Rolle. Dieses Prinzip besagt, dass Führungskräfte Personen für Führungspositionen favorisieren, die ihnen ähnlich sind (vgl. „Ein ewiger Thomas-Kreislauf?“, Allbright-Bericht 2017). Da die Mehrheit der Chef- und Oberärzte sowie Praxisinhaber männlich sind, haben Ärzte in Auswahlverfahren für Führungspositionen in Kliniken und Arztpraxen also die besseren Chancen.
Ich persönlich habe zudem die Erfahrung gemacht, dass ich im Arbeitsalltag sowie bei Bewerbungs- und Beförderungsprozessen entweder über- oder unterschätzt wurde. Unterschätzt wurde ich, weil in mir die (potenzielle) Mutter gesehen wurde, die spätestens nach dem ersten Kind in Teilzeit gehen und eine geringere berufliche Leistung bringen wird. Überschätzt wurde ich im Arbeitsalltag, wenn ich von Vorgesetzten als Konkurrenz wahrgenommen und dadurch in meinen Karriereambitionen behindert wurde.
Empfehlung für junge Ärztinnen
Ganz offensichtlich sind die Arbeitsbedingungen in der Fachabteilung, für welche sich junge Kolleginnen zu Beginn ihrer beruflichen Karriere entscheiden, essenziell. Hier ist eine gründliche Prüfung der Bedingungen, möglichst schon im Einstellungsverfahren, von hoher Wichtigkeit. Fragen, die junge Ärztinnen sich stellen sollten, sind:
- Wie werde ich eingearbeitet?
- Gibt es klare Strukturen, um die Anforderungen des Weiterbildungscurriculums zu erfüllen, oder erfolgt die Weiterbildung eher zufällig?
- Wie gestaltet sich der Dienst- und Urlaubsplan, und inwiefern habe ich Mitspracherecht in der Dienst- und Urlaubsplanung?
- Welche Fortbildungs- und Forschungsmöglichkeiten gibt es?
- Werden die Vereinbarkeit von Beruf und Familie, das Mutterschutzgesetz und die Förderung von Ärztinnen-Karrieren aktiv unterstützt und umgesetzt?
Auch im weiteren beruflichen Alltag ist Aufmerksamkeit bezüglich Benachteiligung und eine aktive Verfolgung der eigenen Ziele wichtig. Viele meiner Kommilitoninnen und ich mussten die Erfahrung machen, dass im Bewerbungsprozess zwar vielen unserer Wünsche positiv begegnet wurde, diese dann aber im Arbeitsalltag schnell in Vergessenheit gerieten. Ich kann deswegen allen Kolleginnen nur raten, rechtzeitig zu handeln, wenn sie „Red Flags“ erkennen. Diese sind für mich unter anderem die fehlende oder defizitäre Umsetzung des Weiterbildungscurriculums oder der Absprachen in Mitarbeitergesprächen, die Missachtung von arbeitsrechtlichen Bestimmungen sowie jegliche Form von Mobbing/Bossing oder sexueller Belästigung am Arbeitsplatz.
Sehr wichtig ist meines Erachtens auch die Wahl des Weiterbildungsfaches und des Arbeitsfeldes. Bei der Entscheidung für oder gegen einen Fachbereich sollten nicht nur das Spektrum des Faches, sondern auch die Arbeitsbedingungen und Entwicklungsmöglichkeiten nach der Facharztanerkennung berücksichtigt werden. Mein Fach, die Radiologie, bietet beispielsweise sowohl im ambulanten als auch stationären Sektor breite Entfaltungsmöglichkeiten, egal ob in einem Anstellungsverhältnis oder in der beruflichen Selbstständigkeit. Dabei unterscheidet sich die eigentliche fachärztliche Tätigkeit, abgesehen von umfangreichen radiologischen Interventionen (die primär im stationären Kontext erbracht werden) an den verschiedenen Tätigkeitsorten nicht wesentlich. In anderen Fachgebieten sind hingegen die Gestaltungs- und Entfaltungsmöglichkeiten sehr vom Ort der Berufstätigkeit (Klinik vs. Praxis) oder vom Arbeitsverhältnis (Anstellung vs. Selbstständigkeit) abhängig.
Jenseits der Weiterbildung, die häufig im stationären Sektor absolviert wird, sollten junge Kolleg:innen also die Niederlassung als realistische, oft frauen-freundlichere Karriereoption im Blick haben. Beispielsweise ist der Anteil der niedergelassenen, also selbstständig ambulant tätigen Radiologinnen, höher als der Anteil der weiblichen Führungskräfte in radiologischen Krankenhausabteilungen. Die Niederlassung kann gerade Ärztinnen ungeahnte Gestaltungsfreiräume in Bezug auf die Arbeitsbedingungen, Arbeitszeit und Freizeit bieten, da sie als Chefinnen und Unternehmerinnen auf diese Aspekte in einer Art und Weise Einfluss nehmen können, die im Angestelltenverhältnis nicht möglich ist. Leider erlebe ich aber häufig, dass viele junge Kolleginnen die Selbständigkeit nicht erwägen. Gründe hierfür sind unter anderem, dass Studierende im Studium und Ärzt:innen in der Weiterbildung wenig über Unternehmens- und Mitarbeiterführung und das ambulante Vergütungssystem lernen, weil sie ihre ersten beruflichen Erfahrungen im Krankenhaus machen und daher nur das fachliche Spektrum sowie die Vergütungsstrukturen des stationären Sektors kennen. Damit Ärztinnen ihr Potenzial einer beruflichen Karriere voll ausschöpfen und an ihrem Arbeitsplatz einbringen können, muss sich also noch viel ändern. Neben den oben aufgeführten Themen gehört für mich auch dazu, dass eine Sinnhaftigkeit in der ärztlichen Tätigkeit erkannt wird und die moralische Integrität der Ärzt:innen erhalten bleibt. Diese sind vor allem durch die voranschreitende Kommerzialisierung der Medizin, zum Beispiel durch den zunehmenden Einfluss von Investoren, gefährdet. Auch darf die ärztliche Arbeitskraft nicht in einem Maße strapaziert und ausgebeutet werden, dass es zu Erschöpfungssymptomen und zu einem so großen Frust über die ärztliche Tätigkeit kommt, dass Kolleg:innen den ärztlichen Beruf nicht mehr ausüben können oder wollen.
In meiner beruflichen Karriere wurde mir außerdem häufig suggeriert, dass die Hürden, denen ich begegne, individueller Natur sind und in persönlichen Themen begründet liegen. Es sind rückblickend aber in erster Linie strukturelle Probleme, die mich in meinem beruflichen Vorankommen behinderten. Ich halte es daher für essenziell, dass sich Ärztinnen spätestens in der Weiterbildung, am besten schon im Studium, innerhalb der jeweiligen Fachgesellschaft beziehungsweise des Berufsverbandes oder von übergeordneten Verbänden (zum Beispiel dem Marburger Bund oder dem Deutschen Ärztinnenbund) vernetzen, an Förder- und Mentoring-Programmen teilnehmen und auch unabhängig vom eigenen Arbeitgeber Möglichkeiten der Weiterbildung und des Coachings nutzen. Nur im Netzwerk und im Austausch können sie die strukturellen Hürden, die sich auftun, erkennen und überwinden.
Die Förderung von Ärztinnen – eine Aufgabe für Politik und Gesellschaft
Meines Erachtens ist es also nicht nur die Aufgabe der Vorgesetzten und Arbeitgeber, die Arbeitsbedingungen für Ärztinnen so zu gestalten, dass sie ihre Kompetenzen einbringen und ihr Potenzial entfalten können. Vielmehr ist es die Aufgabe der gesamten Gesellschaft, die Strukturen für die berufliche Entwicklung von Frauen, insbesondere von Ärztinnen, zu schaffen. Aufgrund des demografischen Wandels und der Vorteile einer diversen Arbeitswelt können wir es uns als Gesellschaft nicht mehr leisten, Generationen von hochqualifizierten Akademikerinnen in die Teilzeit- und Fürsorgearbeit zu schicken. Sollten wir uns in dem Tempo weiterbewegen, wie wir es aktuell tun, wird es noch viele Jahrzehnte dauern, bis die Gleichberechtigung in der Medizin realisiert ist.
Ich bin deswegen eine Befürworterin der Quotierung, denn ich habe die Erfahrung gemacht, dass erst infolge einer Quote kompetente und qualifizierte Frauen für eine Stelle oder einen Posten ausgewählt wurden und der Thomas-Kreislauf durchbrochen wurde. Nur mit einer Quote können wir erreichen, dass Ärztinnen den Platz im Gesundheitswesen bekommen, der ihren Kompetenzen und Fähigkeiten entspricht, und dass die Gesundheitsversorgung der Bevölkerung sichergestellt bleibt.
Dr. med. Ulrike Engelmayer studierte an der Universität Leipzig Humanmedizin. Seit 2011 ist sie Fachärztin für Diagnostische Radiologie und seit 2022 niedergelassen in einer eigenen Praxis. Sie ist in der Fachgesellschaft DRG als kooptiertes Vorstandsmitglied des Forums Niedergelassener Radiologen und im Berufsverband BDR als kooptiertes Mitglied im Bundesvorstand für die Nachwuchsarbeit aktiv.
Einen weiteren Beitrag zum Thema „Genderdiversity in der Medizin“ finden Sie hier.