Das Thema psychischer Erkrankungen ist in der breiten Bevölkerung häufig noch ein Tabuthema. Dabei gilt Depression mittlerweile als Volkskrankheit, die auch vor Kindern und Jugendlichen keinen Halt macht. Besonders in den letzten Jahren verstärkt sich der Eindruck, Fälle psychischer Krankheiten bei Kindern und Jugendlichen würden sich häufen. Ist das tatsächlich der Fall? Den Effekt der Pandemie und des Krieges auf die Psyche der Jugend erklärt uns der Ärztliche Direktor der Luisenklinik, Professor Dr. Dr. Norbert Grulke.
Die letzten Jahre waren stark von der Corona-Pandemie bestimmt. Hat das bei Kindern und Jugendlichen Spuren hinterlassen?
Auf jeden Fall! Mittlerweile gibt es einige gute Studien, die erhebliche Auswirkungen der Corona-Krise auf Kinder und Jugendliche beschreiben. Diese Effekte betreffen verschiedene Bereiche: Es gab einen Anstieg von psychischen Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen. Viele junge Menschen haben in dieser Zeit unter Angstzuständen, Depressionen und Einsamkeit gelitten.
Auch die Schulschließungen während der Corona-Pandemie haben sich negativ auf die Bildung von Kindern und Jugendlichen ausgewirkt. Viele Schülerinnen und Schüler haben Schwierigkeiten beim Fernlernen und es gibt Bedenken, dass einige ihre Bildungschancen aufgrund der Pandemie verpassen. Zusätzlich haben die Einschränkungen der sozialen Kontakte und die erhöhte Isolation während der Pandemie dazu geführt, dass viele Kinder und Jugendliche Schwierigkeiten bei der Entwicklung sozialer Fähigkeiten und dem Schließen von Freundschaften hatten. Den zwischenmenschlichen Kontakt haben viele vermisst.
Es gibt jedoch auch positive Aspekte zu berichten. Zum Beispiel das Wachsen des Gemeinschaftsgefühls und der Solidarität in einigen Familien und Gemeinschaften, sowie die Verbesserung der digitalen Skills und Technologie-Fähigkeiten der Jugend.
Zum Alltag unserer Zeit kommen neben der Pandemie nun aber noch Krieg, Wirtschaftsängste und Klimakatastrophen. Glauben Sie, dass diese aktuellen Jahre langfristig Auswirkungen auf die Psyche Heranwachsender haben werden?
Leider ja. Als Psychotherapeut bin ich überzeugt, dass die aktuellen Jahre sich langfristig auf die Psyche von Heranwachsenden auswirken. Die anhaltenden Herausforderungen, wie Krieg, Pandemie, Wirtschaftsängste und Klimakatastrophen, nicht zuletzt befeuert durch soziale Medien, führen zu einer erhöhten Belastung und Unsicherheit. Hinzu kommt noch, dass die Kriegserfahrung zu traumatischen Erfahrungen führen können, die es erschweren, Vertrauen in andere Menschen aufzubauen. Die aus dem Krieg resultierende wirtschaftliche Unsicherheit kann zu finanziellen Belastungen und Schwierigkeiten bei der Planung der Zukunft führen. Studien belegen, dass chronischer Stress und Traumatisierung bei Kindern und Jugendlichen zu einer Vielzahl von psychischen Problemen führen können, wie zum Beispiel Depressionen, Angststörungen und posttraumatische Belastungsstörungen. Das kann auch zu Entwicklungsstörungen und sozialen Anpassungsproblemen führen, die langfristige Auswirkungen auf die psychische Gesundheit haben können.
Es ist jedoch wichtig zu betonen, dass nicht alle Heranwachsenden gleichermaßen von diesen Krisensituationen betroffen sind. Einige Kinder und Jugendliche sind widerstandsfähiger und können besser mit Stress und Traumatisierung umgehen. Manche Studien deuten darauf hin, dass schwierige Erfahrungen, wie sie durch die Pandemie verursacht wurden, die Resilienz von Kindern und Jugendlichen sogar stärken und ihnen helfen können, in Zukunft besser mit Herausforderungen umzugehen. Dies kann sich auch positiv auf ihre soziale und emotionale Entwicklung auswirken und sie stärker und widerstandsfähiger machen. Es ist aber anzumerken, dass das nicht nur von persönlicher Resilienz abhängig ist, sondern vor allem auch von familiären, sozialen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen.
Welche Probleme von Kindern und Jugendlichen haben sich auf der Mikroebene, also dem direkten persönlichen Kosmos, in den letzten Jahren verändert?
Pandemie und Krieg haben zweifellos Auswirkungen auf das Leben von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen und können zu zusätzlichen Belastungen führen. Allerdings ändern sie prinzipiell nicht die grundlegenden Konflikte und Entwicklungsschritte, die im Laufe des Aufwachsens bewältigt werden müssen. Insgesamt können die Herausforderungen der letzten Jahre als Teil des allgemeinen Prozesses des Aufwachsens betrachtet werden, da junge Menschen lernen müssen, sich an veränderte Umstände anzupassen und mit Schwierigkeiten umzugehen.
Idealerweise erhalten sie dabei angemessene Unterstützung durch Familien, Lehrer und andere Betreuungspersonen und wachsen in gesicherten sozialen und wirtschaftlichen Verhältnissen auf. In einer nicht-idealen Welt gibt es daher in dieser Hinsicht viele Aufgaben, die nicht zuletzt auch seitens der Kinder- und Jugendpsychiatrie und –psychotherapie anzugehen sind. Diese müssen dann gemeinsam mit Kindern oder Jugendlichen und ihrem Bezugssystem gelöst werden. Darin liegt ein besonderer Reiz der psychotherapeutischen, in der Regel sehr befriedigenden, Tätigkeit.
Welche Rolle spielt die Digitalisierung bei der psychischen Gesundheit Ihrer Patient:innen?
Soziale Medien können dazu beitragen, dass sich Kinder und Jugendliche ständig mit anderen vergleichen und sich unter Druck setzen, um ein bestimmtes Bild von sich selbst darzustellen. Dies kann zu einer Beeinträchtigung des Selbstwertgefühls führen. Soziale Medien können auch ein Instrument für Mobbing sein, was zu einer Belastung und zu psychischen Problemen führen kann.
Auch exzessives Gaming lässt sich als Ursache und Ventil psychischer Belastung identifizieren. Oft sind Vernachlässigung von Schule, sozialen Beziehungen und anderen Aktivitäten die Folge. Daraus kann eine Abhängigkeit von Computerspielen resultieren. Nicht ohne Grund hat die WHO in der elften Version der internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD-11) die „Gaming Disorder“ eingeführt. Mit dem Begriff Sucht sollte dabei allerdings vorsichtig umgegangen werden. Das Internet kann auch eine Fülle von Informationen über Selbstverletzung und Suizid bereitstellen, was für gefährdete Kinder und Jugendliche ein Risiko darstellen kann.
Dennoch möchte ich auch positive Einflüsse der Digitalisierung auf das Wohlbefinden der Heranwachsenden beleuchten: Sie haben die Möglichkeit, Informationen und Unterstützung zu finden, die zu einer Verbesserung der psychischen Gesundheit beitragen können. Digitale Medien können zudem dazu beitragen, dass Kinder und Jugendliche besser miteinander vernetzt sind und eine größere Gemeinschaft bilden. Es ist daher wichtig, dass Kinder und Jugendliche in Bezug auf digitale Medien geschult und unterstützt werden. Das stellt sicher, dass sie diese sicher und verantwortungsbewusst nutzen und Zugang zu Unterstützung haben, wenn sie mit psychischen Problemen zu kämpfen haben. Eltern, Schulen und andere öffentliche Institutionen und Einrichtungen können dabei eine wichtige präventive Rolle spielen, indem sie Kindern und Jugendlichen helfen, digitale Medien in einer gesunden Art und Weise zu nutzen.
Gerade in Ihrem Bereich herrscht eine große Nachfrage nach medizinischem Fachpersonal. Warum ist dies so und warum raten Sie dem Medizinernachwuchs dazu, sich ihrer Disziplin zuzuwenden?
Der Bedarf an psychotherapeutischen Leistungen und damit die Nachfrage ist in den letzten Jahren gestiegen. Metaanalysen deuten darauf hin, dass die Prävalenz psychischer Erkrankungen in Deutschland in den letzten Jahren zugenommen hat. Hinzu kommen andere Faktoren, etwa eine erhöhte Bereitschaft, Hilfe zu suchen. Zusätzlich sind Ärzte heute aufmerksamer und sensibler gegenüber psychischen Erkrankungen und empfehlen Psychotherapie eher als früher. Diese erhöhte Nachfrage erfordert mehr Leistungserbringer, da ja die aktuell psychiatrisch-psychotherapeutisch Tätigen diese bei weitem nicht decken können. Sie sind bereits jetzt ausgelastet. Viele Aktive werden absehbar in Rente gehen und es fehlt an genügend Nachfolgenden.
Diese Tatsache trifft allerdings nicht nur auf die sogenannten Psych-Fächer zu. Eine Studie aus dem Jahr 2019 zeigte, dass die Stigmatisierung psychischer Erkrankungen und die Wahrnehmung der Psychiatrie als unattraktives Fachgebiet einige der Hauptgründe waren, warum sich die Befragten nicht für eine Karriere in diesem Bereich entschieden haben.
Dem möchte ich allerdings widersprechen! Befragt man die im Felde Tätigen, geben viele eine hohe Berufszufriedenheit an. Sie empfinden den Umgang mit den Patienten als besonders bereichernd und befriedigend, zum Beispiel durch die Möglichkeit, Menschen zu helfen und positive Veränderungen im Leben der Patienten zu bewirken. Darüber hinaus schätzen viele die fachliche Herausforderung, die Vielfalt an Aufgaben und die Möglichkeit zur Weiterbildung.
Eine weitere wichtige Rolle spielen auch die Teamarbeit und die Zusammenarbeit mit anderen Fachkräften, wie etwa Psychologen, Sozialarbeitern und Ergotherapeuten. Arbeit im Bereich der psychischen Gesundheit trägt auch dazu bei, das persönliche Wachstum zu fördern und eine breitere Perspektive auf die Welt und die menschliche Natur zu entwickeln. Gerade im Bereich der Kinder- und Jugendpsychiatrie oder -psychotherapie lassen sich noch Weichen für eine gelingende Entwicklung stellen.
Klingt nach einer spannenden und erfüllenden Karriere.
Absolut! Es darf auch nicht vergessen werden: In psychiatrisch-psychosomatisch-psychotherapeutischen Kliniken bestehen hervorragende Karrierechancen.
Und was müssen Kliniken tun, um Ärzt:innen davon zu überzeugen und sie von dieser Karriereoption zu überzeugen?
In einem Arbeitnehmermarkt, in dem Fachkräftemangel herrscht, wird es für Kliniken immer wichtiger, sich als attraktive Arbeitgebermarke zu positionieren, um potenzielle Kandidaten anzuziehen. Eine individuelle Arbeitgebermarke ist geprägt von der Kultur der Zusammenarbeit und der Art der Führung in der Klinik. Es ist wichtig, dass Kliniken diese Aspekte aktiv kommunizieren und in ihren Stellenanzeigen, auf ihrer Website und in ihren sozialen Medien hervorheben. Ein wichtiger Faktor dabei ist das Angebot von attraktiven Arbeitsbedingungen und -umgebungen, wie zum Beispiel flexible Arbeitszeiten, Weiterbildungsmöglichkeiten, moderne Ausstattung und Technologie. Aber auch transparente Kommunikation, eine positive Arbeitsatmosphäre und eine gute Work-Life-Balance sind wichtig.
Was macht Ihnen an ihrer Arbeit besondere Freude?
Ganz klar: Die Arbeit mit den Menschen! Auch in meiner jetzigen Position als Ärztlicher Direktor ist eine gelungene Therapiestunde noch immer viel befriedigender als beispielsweise eine erfolgreiche Sitzung oder eine Publikation.
Durch die therapeutische Arbeit erlangt man tiefe Einblicke in viele Facetten des menschlichen Lebens. Jeder Patient ist anders, es wird nie langweilig. Wir können von unseren Patienten ständig dazulernen. Wir retten zwar selten Leben, dafür häufiger Lebensläufe. In der psychotherapeutischen Begleitung oder in Katamnesen können wir oft spürbar ernten, was wir in unseren Therapien säen. Einfach ein toller Job!
Professor Dr. med. Dr. rer. soc. Norbert Grulke studierte mittels Stipendium der Friedrich-Ebert-Stiftung Medizin und Psychologie. Dabei blickte er auch über den Tellerrand zur Soziologie und Philosophie. Seine akademische Laufbahn begann er zunächst an der Medizinischen Psychologie und Soziologie der Uni Tübingen, wo er auch zum Dr. med. und zum Dr. rer. soc. promovierte. Anschließend wechselte er an der Uni Ulm zur Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, habilitierte sich im Fachbereich und wurde 2008 zum Professor ernannt. Er ist Psychologischer Psychotherapeut (Verhaltenstherapie) und Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie (tiefenpsychologisch).
Herr Prof. Grulke erhielt außerdem zahlreiche wissenschaftliche Auszeichnungen, unter anderem den Römerpreis des DKPM und Young Investigators Award der IPOS. Neben seinem stetigen ehrenamtlichen Engagement ist Norbert Grulke seit vielen Jahren in Aus-, Fort- und Weiterbildung für Ärzt:innen und Psychotherapeut:innen tätig. 2007 wurde er zum Ärztlichen Direktor der Luisenklinik, Zentrum für Verhaltensmedizin, Akademisches Lehrkrankenhaus Uni Freiburg –Psychosomatische Medizin und Psychotherapie und Kinder- und Jugendpsychiatrie/-psychotherapie- mit ihren Standorten in Bad Dürrheim, Stuttgart und Radolfzell ernannt.